Die Motivation


Vorgeschichte:

Den wohl grössten, persönlichen Widerspruch überhaupt, erlebe ich permanent im Zusammengehen von Planung und Ausführung einer Tour. Ich plane für mein Leben gerne und vertiefe mich oft in mikroskopisch kleine Details. Dies nicht etwa um möglichst genau zu sein, eine Sicherheit zu haben oder eine Perfektion zu erreichen. Es ist zum grössten Teil eine riesen Motivation etwas anzugehen und sich in etwas hineinzuleben. Doch kaum unterwegs, kann sich der Plan sogleich in Luft auslösen und ich ergebe mich der Improvisation, die ich exakt gleich liebe! D.h. der Berggipfel den ich vorausgeplant erreichen will, kann sehr wohl unterwegs einem anderen weichen. Ein interessanter Name auf dem Wegweiser, kann mich sogleich auf einen anderen Weg bringen. Die Diskrepanz beider Eigenschaften, verleiht mir die Spannung in jede Tour, jedes Vorhaben und es macht riesig viel Spass, schlussendlich ein tolles Erlebnis gehabt zu haben….. in den allermeisten Fällen zumindest!

Doch einen Plan zu entwickeln, hat für mich auch mit einer Art Erlebnis zu tun. Dies hat mit zwei Eigenschaften zu tun, die mich seit Kindesbeinen begleiten und jegliche Art von Planung beeinflussen.

Ich bin als jüngster Sohn des wohl grossartigsten Panoramakartenzeichners unserer Zeit, Winfried Kettler, auf die Welt gekommen. Seit ich denken kann, haben Landkarten jeglicher Art einen grossen Platz in meinem Leben eingenommen. Ich kann wohl sagen, dass ich schon fast eine innige Beziehung zu Karten habe. Ich liebe es in ihnen zu stöbern, meine Neugier zu befriedigen, Dinge zu finden die vielleicht nur die wenigsten in ihnen sehen.


Es ist, als wäre es gestern gewesen, als mein Kinderzimmer ein Teil des Graphikateliers meines Vaters war. Schon beim erwachen roch ich den süsslichen Duft der Farbe, hörte das feine Zischen des Air Brush, wenn mein Vater wieder diese grazilen, zerbrechlichen Wolkenbilder sprühte. Und jedes Mal wenn ich alleine im Zimmer war, zog es mich an seinen Tisch und ich erkundete sämtliche Neuigkeiten des Arbeitstages auf den Panoramen. Seien es die kleinen Häuschen, die Unmengen einzeln gezeichneter Bäume, Seen, Bäche und unendlich viele Details.

Val d`Anniviers / Winfried Kettler

Jedes neue Bild war wie ein neues spannendes Buch, in dem ich stundenlang, tagelang drin blättern konnte. Aber es war auch die Faszination, irgendwann wahrhaftig in die gezeichnete Destination reisen zu können um alles „in Echt“ zu sehen. Das ein oder andere Mal sogar in ein kleines Flugzeug steigen zu dürfen, wenn wieder ein Fotoflug angesagt war. Das war mit Sicherheit auch ein Auslöser, irgendwann selber ins Cockpit von Flugzeugen und später Hubschrauber steigen zu wollen und zu können.

Leider ist das Zeichentalent meines Vaters an mir vorbeigerauscht, eine Tatsache die ich noch heute sehr bedaure!
Es hat viele Jahre meines Lebens gebraucht, bis ich aber feststellte, dass meine Sicht auf Landkarten anders war, als diejenige meiner Freunde und Bekannten. In der Schulzeit bemerkte ich als erstes, dass die damals aufkommenden Orientierungsläufe mit Karten, für mich ein einfaches Spiel waren. Während andere verzweifelt die Landschaft nach den üblichen Lochklammern für die Karten absuchten, sass ich oft schon gelangweilt im Ziel und konnte nicht verstehen, was da so schwierig dran sein sollte diese Dinger zu finden. (Leider war der Orientierungslauf damals noch völlig unpopulär, vielleicht hätte ich da noch eine Karriere starten können 😉 ).

Es waren zwei Eigenschaften die ich erst sehr viel später an mir eruieren konnte und überhaupt bemerkte. Zum einen ist dies ein sehr gutes fotografisches Gedächtnis was Landkarten angeht. Wenn ich eine Karte ansehe, dann speichere ich unbewusst sehr viele Dinge ab. Seien es die natürlichen Landmarken wie die Topographie (Berge,Täler), die Gewässer (Seen, Flüsse, Bäche) oder auch die Vegetation (Wald, Buschwerk, Wiesen). So auch die menschlichen Landmarken wie Häuser, Wege und Strassen, Brücken usw. Ich speichere diese Dinge nicht nur auf einem kleinen Radius ab, sondern beziehe auch die Umgebung einer geplanten Route mit ein.
Zum zweiten baut sich beim betrachten einer Landkarte, eine dreidimensionale Landschaft vor mir auf. Aus Höhenlinien werden Berge und Täler und ich sehe ganz unbewusst ein Relief vor mir. Was bedeutet dies nun, wenn ich auf einer Karte, eine Route von A nach B, über Wege oder weglos, einzeichne?

Reliefbeispiel : Thomas Hahmann – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Wikipedia

Im Kopf windet sich nun meine Routenlinie über Hügel, durch Täler und Ebenen vorbei und ergibt mir ein dreidimensionales Bild meiner Strecke. Und dies ganz ohne ein weiteres Zutun! Das hat nun natürlich gewaltig viele Vorteile, denn ich kann so das Terrain abschätzen, weiss ziemlich genau wo eine Infrastruktur steht und ob ich frei laufen kann oder ich mich auf ein nerviges Buschwerk mit vielen Höhenmeter einstellen muss. Die Tatsache, dass ich nun auch viele Informationen über Alternativen in der Umgebung im Kopf habe, macht es bei Planänderungen umso einfacher reagieren zu können. Richtig bewusst erlebt habe ich dies 2013, als auf meiner Norwegentour, meine Tourplanung schon am vierten Tag den Bach runterging und ich ziemlich problemlos weiter agieren konnte.

Wer jetzt aber denkt: „wow cool, der Martin hat da ja nun wirklich kein Problem mehr mit navigieren“, dem kann ich getrost gestehen, dass dies überhaupt nicht der Fall ist. Den einen grossen Haken hat die ganze Geschichte! Meine gespeicherten Informationen sind natürlich nur so gut, wie die Karten alle auch aktuell sind!
Gerade der Klimawandel zeigt viele Grenzen auf, wenn man nur ältere Karten zur Verfügung hat. So kann das durchqueren eines Tales über einen Gletscher mit einer Karte von 2005, ein einfaches und kurzes Erlebnis sein. 2021 kann sich dort aber mittlerweile ein riesiger, unüberwindbarer Geröllhaufen ohne Eis befinden. Wo ich 2009 mit Hilfe der damals aktuellen Karte, locker von der Gletschermoräne auf den Felsen gestiegen bin, stehe ich heute vor einer acht Meter hohen Felswand, da die Erosion die Moräne abgetragen hat. Wo früher laut Karte ein Haus stand, stehen heute 20-30 Ferienhütten, wo eine Brücke eingezeichnet war, ist heute kein Übergang mehr.
Gerade sehr alte Karten in Norwegen bescheren ab und zu grosse Überraschungen, wenn zum Teil neue Kraftwerks-Seen entstehen oder ganze Bachläufe in unterirdischen Turbinenröhren verschwinden. Es gibt die vielfältigsten Möglichkeiten, wo mich meine geliebten Eigenschaften in die Bredouille bringen können. Dennoch, die Vorteile überwiegen!

Ein Teil der Motivation:

Wozu diese ganze Vorgeschichte und wo ist der Zusammenhang mit meiner Motivation dieses Projekt anzugehen?
Man kann sich in etwa vorstellen, was sich bei mir in über 10 Jahren, beinahe täglichem, Kartenstudium so im Kopf an Informationen angesammelt hat! Ein wahres Eldorado an Wissen und Bildern die ich auch auf meinen jährlichen Touren zu einem gewissen Masse nutzen konnte. Aber das allermeiste liegt brach und ungenutzt. Genau das war der Ansporn, gerade diese Ressourcen zu nutzen und in der Praxis einzusetzen.

Doch wozu all den Aufwand, es gibt doch technische Hilfsmittel? Das ist doch alles einfacher?
Stimmt, die gibt es und solange die Batterie auch geladen ist, funktionieren diese Dinger ja auch sehr gut. Und es ist ja auch nicht so, dass ich keinerlei technische Hilfsmittel brauche, wobei das GPS mittlerweile definitiv ausgedient hat und ich nur noch das Smartphone hierfür nutze.

Norge Karte auf dem Smartphone

Es ist leider so, dass sich Navigation immer mehr auf technische Hilfsmittel konzentriert und Karten lesen, einen Kompass benutzen oder einen Weg mithilfe seiner Sinne suchen, immer mehr in Vergessenheit gerät. Eigentlich sehr schade, den gerade die Navigation ist ein sehr spannendes Betätigungsfeld, auf jedenfall spannender, als einem langweiligen Pfeil auf einem Bildschirm nachzulaufen.
Der Orientierungssinn gehört zu den Instinkten eines Lebewesens und gerade der Mensch hat dies in den letzten Jahrzehnten immer mehr vernachlässigt, da er immer mehr Hilfsmittel erfunden und entwickelt hat. Doch es ist ein Instinkt, der in uns schlummert und jederzeit abrufbar wäre.

Wer hat nicht schon mal den Pfad oder den Weg aus den Augen verloren? Heutzutage geht der Griff zum GPS, zum Smartphone und schon ist die Orientierung wieder da. Doch dabei könnte man sich einfach mal hinsetzen, die Gegend beobachten und sich primär Gedanken darüber machen: „Wo würde ich hier jetzt einen Weg anlegen?“ Dies war nämlich auch der Gedanke desjenigen, der diesen Weg als erstes angelegt hat. Und es ist erstaunlich, wieviele Menschen die gleichen Gedankengänge, die gleichen Ansichten entwickeln und auch die gleichen Lösungsansätze haben, wenn es um solch eine Problemlösung geht.

Es ist ein sehr spannendes Kapitel und sehr interessant wie schnell auch ungeübte Menschen, sich diesen Instinkten wieder annähern, sie ausbauen können und damit erfolgreich sein können…. GPS hin oder her 😉

Einfach mal bei der nächsten Wanderung ausprobieren!

Das bedeutet nun, dass ich das ganze Wissen und die Infos in das Projekt einfliessen lassen möchte und so viel unabhängiger von einem fixen Plan sein kann. Gut möglich, dass ich das alles etwas überschätze, doch es ist der Reiz, dies auszutesten.

Das Zahlenspiel:

Ich habe zwar kein wirklich inniges Verhältnis zu Zahlen, doch wenn es um eine Zahlenspielerei geht, bin ich immer mit vorne dabei. Es war 2019, als mir durch den Kopf schoss: „Hei, Du wirst doch nächstes Jahr 50 jährig, warum nutzt Du diesen Anlass nicht gleich um ihn irgendwie mit diesem Projekt zu verbinden“. Gedacht, getan und schon bald war die Idee geboren: Start im 50gsten Lebensjahr / Dauer 5 Jahre / jedes Jahr 555 Km / und Ankunft im Norden mit 55! Irgendwie ging mit dieser Idee gleich alles auf, ohne dass ich mich unter Druck setzte. Ein amüsanter Plan, der im Rahmen des möglichen lag.

Nun habe ich also diesen Plan, mir diese „optimale“ Linie durch Norwegen zu suchen, besitze einen grossen Pool an Informationen, ich habe eine gewisse Erfahrung mit der Tour, kann mich mittlerweile relativ gut und sicher im hohen Norden bewegen und kann alles zusammen in einem Zahlenspiel vereinen ohne mich zu fest zu limitieren….und dann kam…..

…..Corona:

Kaum ein Mensch hätte wohl im schlimmsten Alptraum daran gedacht, was für Einschränkungen über so lange Zeit, dieser kleine asiatische Mistkäfer auslösen könnte. Konnte den diese Pandemie nun meinen schönen Plan zunichte machen? Gut, das Zahlenspiel war gegessen und erledigt, doch das war mit Sicherheit mein kleinstes Problem, auch wenn mich die Idee positiv begleitet hat.

Seit nunmehr bald 23 Monaten (Stand 7/2021) habe ich das Fjell nicht mehr betreten und die Aussichten für eine Reise 2021 (geplant Mitte September), sind im Moment ziemlich vage!

2020 hätte ich meine ersten 555 Km absolviert, wäre nördlich der Hardangervidda angekommen und 2021 wäre nun eine der schwersten und intensivsten Etappen geplant gewesen. Doch was nun?

Ich will mich definitiv nicht beklagen, da ich und meine Nächsten (bis jetzt) unversehrt und gesund durch die Pandemie gekommen sind, ich habe 2020 eine der schönsten Fernwanderungen der Schweiz, den Walserweg, bei besten Verhältnissen erwandern können, ich habe meinen sicheren Job und konnte mich immer, praktisch ohne Einschränkungen, frei bewegen! Nein, jammern kann und will ich sicher nicht!
Und doch sticht es, wenn ich an den entgangenen Norden und die noch unsichere Zukunft denke.

Nachdenken war angesagt und die Pandemie hat hierzu viel Zeit und Möglichkeit gegeben, schlussendlich auch einige Inputs geliefert, Schlussfolgerungen ergeben und grundsätzliche Fragen aufgeworfen und zugleich beantwortet.

Plötzlich kam für mich die Frage auf, inwieweit ich dieses Projekt noch nach gewissen Spielregeln ausführen wollte, die Sichtweise auf den ganzen Plan hatte sich ungewollt verändert und die Voraussetzungen wurden aufs Mal neu gemischt. Nun fehlten plötzlich zwei Jahre und vielleicht sogar noch ein drittes dazu!

Ich war mir sicher, es musste eine Neuauflage geben…….. aber dieses Projekt würde starten! 🙂