Ein Traum geht am Kap zu Ende


Als ich durch die Türe der Ljosland Fjellstove hereintrete, werde ich sehr herzlich empfangen. Ich habe hier vor ein paar Tagen für heute Nacht ein Zimmer reserviert, als ich gerade mal wieder etwas Mobilfunkempfang hatte. Ich freue mich sehr hier zu sein, denn dieser Ort ist für NPLer so ein Navigationsort wie Tyinkrysset, Umbukta oder Ritsem. Wie bei Tyinkrysset hat auch Ljosland für mich bisher nur in der Theorie eine Rolle gespielt und ich habe mir mein eigenes Bild gemacht davon. Dieser Ort spielt auch eher wichtiger bei den Wintertouren, denn für die Sommertouren ist es meist zu früh und die Vesthei noch voller Schnee. Daher wandern die meisten via Austhei nordwärts. An der Wand hängt denn auch ein grosser Anschlag mit vielen Postkarten und Bildern von NPLer mit Winterausrüstung und Skis.

Ich beziehe mein Zimmer und geniesse zuerst mal eine lange Dusche, bevor ich es mir in der gemütlichen Lounge mit einem kühlen Bier gemütlich mache. Kaum abgesessen, piepst mein Smartphone und ich sehe, dass eine Nachricht von Thomas (Wanderbarepfade) reingekommen ist. Ich kenne Thomas schon seit seiner Norge på langs Tour 2018 und wir hatten damals sehr viel Kontakt als er unterwegs war. Viele Monate haben wir uns während und auch nach der Tour ausgetauscht und irgendwann hatte man das Gefühl, einander bestens zu kennen. Doch ein persönliches Treffen hat es nie gegeben und ich freue mich natürlich immer wieder sehr, wenn es dann doch einmal soweit ist.
Thomas und Nadine sind seit einiger Zeit in Norwegen unterwegs, aber irgendwie immer ausserhalb meiner Reichweite geblieben, bis… heute!

Die beiden tummeln sich gerade am Byglandsfjord in der Nähe von Evje herum und sind auf dem Heimweg nach Deutschland. Wo ich denn gerade sei, ist seine Frage und als ich zurücksende, dass ich in Ljosland in der Fjellstove sitze, kommt postwendend die Frage:
„Hast du Lust auf ein gemeinsames Bier heute Abend?“
Wow, und wie! Das wäre natürlich sensationell und ich würde mich riesig darüber freuen. Evje liegt ja nicht weit von hier, obwohl das in Norwegen sehr relativ sein kann und so kommen Thomas und Nadine erst sehr spät in Ljosland an. Doch es reicht noch locker für ein gemeinsames Bierchen und tausend Erinnerungen.

Seit Tagen versuche ich für meine letzte Kurzetappe nach Lindesnes noch eine akzeptable Lösung zu finden. Campieren kann ich nicht mehr und es gibt kaum Übernachtungsmöglichkeiten. Ich könnte es in drei sehr langen Tagen, mit über 40 Kilometern täglich, schaffen und hätte zu Beginn noch ein Hotel etwas abseits und am zweiten Tag einen vielleicht geschlossenen Bahnhof. Mich in irgendeiner Art mit dem Taxi oder Bus für eine Übernachtung rumfahren zu lassen, wie ich es nördlich von Trondheim gemacht habe, fällt aus Kostengründen auch eher flach. Es sind zwei Regentage mit viel Wind angesagt, da wird es auch nicht wirklich viel Spass machen durchzulaufen. Ich bin gerade etwas ratlos.
Als ich im Bett liege, wälze ich mich durch die Karten und das Internet hindurch, doch alles ohne Erfolg. So langsam kommt etwas Resignation auf und ich denke mir: Muss das wirklich noch sein, dass ich mich zu etwas zwinge, was eigentlich gar keinen Sinn mehr macht?

Nach einer unruhigen Nacht sitzen wir drei bei einem gemütlichen Frühstück zusammen und ich merke, dass Thomas meinen Zwiespalt bemerkt. Er hat ja alles mitbekommen und ich spüre, wie sein NPL Herz gerade mitarbeitet, um eine gangbare Lösung zu finden. Ich erzähle beiläufig, dass ich mir eigentlich noch den letzten Wunsch erfüllen möchte, meinen letzten Tourtag 2024 genau so zu erleben, wie ich meinen ersten Tourtag 2013 in Lindesnes erwandert habe: von Vigeland ans Kap Lindesnes. Was dazwischen liegt, ist mir im Moment eigentlich ziemlich egal, denn ich kenne die Strassen in- und auswendig und bin diese in all meinen Ferien im Telemark schon so oft mit dem Auto gefahren.
Thomas schaut mit einem schelmischen Lächeln Nadine an und sagt:
„Also, unser Auto ist zwar proppenvoll bis unters Dach, aber wenn wir alles etwas zusammenrücken, dann hätte da noch ein Wanderer mit Rucksack Platz bis nach Kristiansand runter“.
Nadine nickt und beide schauen mich amüsiert an, denn beide wissen wohl, dass dies ein zu verlockendes Angebot für mich ist, als dass ich es ablehnen könnte.
„Echt jetzt, ihr würdet mich wirklich mitnehmen?“
Beide nicken und in diesem Moment merke ich, dass es so einfach perfekt für mich stimmt. Ich hatte Gaps auf meiner Tour und es macht nun schlicht und einfach absolut keinen Sinn mehr, hier etwas durchzuboxen, nur um nachher sagen zu können, dass ich auch die letzten Meter noch gelaufen bin. Hinzu kommt, dass ich in der Nacht in Erfahrung gebracht habe, dass ich drei Tage in Oslo festsitzen würde für einen Platz im Flieger, wenn ich die Strecke laufe. Und da habe ich erst recht keine Lust darauf. Wenn ich zwei Tage früher in Oslo bin, bekomme ich noch einen Platz. Und noch während der dritte Kaffee durch meinen Hals runterfliesst, ist der Rückflug gebucht und alles für meine Rückkehr organisiert.

Tag 107 / Ljosland-Kristiansand (Transfer)

Während der Fahrt spüre ich eine grosse Erleichterung. Meine Blicke folgen dem Strassenverlauf und enden immer wieder in den grossen Pfützen des Dauerregens da draussen. Mit der Erleichterung kommt auch die grosse Freude auf, dass ich meinen ersten Tourtag 2013 morgen nochmals in umgekehrter Version erleben kann und so mein riesengrosses Norge på langs Abenteuer nach 11 Jahren, rund 230 Tagen und c.a. 5`500 Kilometer an diesem Punkt beenden darf.

Zur Belohnung gibt es auf halber Strecke noch die wunderschöne Sichtung einer ganzen Elchfamilie und dank Thomas auch eine schöne Dashcam Aufnahme.

Als wir in Kristiansand ankommen, geniessen wir zu dritt noch einen leckeren Cappuccino, bevor die beiden ihre Fähre zurück nach Deutschland besteigen.

Lieber Thomas und Nadine
Ihr habt mir mit eurem Besuch eine riesengrosse Freude gemacht und ich werde euch diesen Transfer nie vergessen, herzlichen Dank nochmals für alles! Es ist für mich wieder eine dieser Begegnungen auf Tour, die unbezahlbar schön sind und lange in meinen Gedanken wach bleiben werden. Tusen takk!

Ich spaziere noch etwas durch die Stadt, aber die Eindrücke, der Lärm, die zum Teil „eigenartigen“ Leute, deprimieren mich fast mehr, als dass sie unterhalten. Wo war ich nochmals vor 24 Std…?

Erinnerungen…

Doch jetzt steht der letzte Tourtag bevor. Ich werde nach Vigeland fahren, dort wo ich am 11. Mai 2013 meinen ersten Tag beendet habe. Ich werde von dort diesen Tag zurücklaufen, auf der gleichen Strecke bis zum Leuchtturm. Ein Tag, der mir bis heute im Kopf rumschwirrt, wie wenn er gestern gewesen wäre. Am Ziel wird mich, wenn es klappt, eine wunderbare Überraschung erwarten, darüber freue ich mich ganz speziell!

Tag 108 / Vigeland-Kap Lindesnes

Nach einem sehr ausführlichen Frühstück bringt mich ein Taxi nach Vigeland. Die Landschaft braust an meinen Augen vorbei und in meinem Kopf sind tausend Bienen. Es brummt und surrt, doch es ist nicht der Rotwein von gestern, es sind meine wirren Gedanken.

Ich schreibe Tobi eine kurze Nachricht. Er befindet sich kurz vor dem Nordkap und wird dieses wohl in zwei Tagen erreichen. Er hat den Wintereinbruch gut überstanden und ihm geht es jetzt wohl genau gleich wie mir. Emotionen und Erinnerungen prasseln wie eine Lawine auf mich ein und ich kann kaum einen brauchbaren Gedanken finden. So erscheinen plötzlich auch wieder die Bilder von jenem NPL Läufer kurz vor Bolna, der dort seine Tour beendet hat und völlig von den Gefühlen überwältigt war. Das war heute vor 65 Tagen und nun stehe ich auch (wieder) an diesem Punkt. Gefühlschaos pur.

Vigeland

In Vigeland beendete ich 2013 meinen ersten Tourtag und ich weiss noch so gut, wie ich diesen Tag verfluchte. Über 25 Kilogramm am Rücken, Dauerregen und Sturm und dann erst noch eine Zeltnacht irgendwo im Grünen in Aussicht. Ich war so frustriert, dass ich ein Taxi aus Mandal rief, dort in einem Hotel übernachtete und mich am nächsten Tag wieder zurückfahren liess, zu jenem Kreisel, an dem ich jetzt wieder stehe.

Zuerst geht es etwas der Hauptstrasse entlang, bevor ich mich über kleine Kiesstrassen durch den Wald Richtung Süden bewege.

Das Ziel in Reichweite

Nach einer Weile treffe ich auf den Holzschuppen, in dem ich 2013 vor dem Regen Schutz gesucht habe und noch lange überlegte, das Zelt dort drunter aufzustellen.

Heute muss ich schmunzeln über diese Situation, aber damals…

An vielen Orten auf meinem Weg sind die Erinnerungen unglaublich frisch und ich spüre, dass die Entscheidung absolut richtig war, dies nochmals zu erleben.

Auch die Rentiere haben wieder etwas komische Umrisse…

Nach rund drei Stunden ist es soweit, das Meer kommt in Sicht.

Als ich am Meer ankomme, erinnere ich mich noch so gut, wie ich die beiden kleinen Steine aufhob und in meine Hosentasche schob. Einen der beiden wollte ich am Nordkap wieder dem Meer übergeben und der andere würde mit einem Stein vom Nordkap, immer meine Erinnerungen an diese Tour frisch halten.

Als ich Spangereid erreiche, gibt es zuerst noch etwas Futter für die letzten Kilometer und sehr wahrscheinlich einen letzten Hamburger für die nächsten Wochen! Es waren derer viele in den knapp vier Monaten.

Als ich aus der Tankstelle an die frische und kühle Meeresluft trete, fährt schon hupend ein kleiner weisser Wagen vor: meine Überraschung!
Ich bin zutiefst gerührt und ich bringe kaum Worte aus meinem Mund. Es sind Cornelia und Svein aus dem nahen Mandal. Die beiden haben mich 2013 mit dem Auto und einer Schweizer Fahne ans Kap gebracht und mich dort auf meine unglaubliche Reise geschickt. Jetzt, 11 Jahre später und nach allem was in dieser Zeit passiert ist, werden sie mich am Kap wieder in Empfang nehmen. Keine Geschichte der Welt könnte in diesem Moment schöner sein und ich bin mehr als überwältigt. Nach der Begrüssung fahren sie los ans Kap, nicht ohne mich noch dazu zu überreden, mit ihnen runterzufahren, denn der Wind bläst eisig und es soll demnächst regnen. Nein, diese Kilometer will ich unbedingt noch laufen und es könnte nicht passender sein, dass ich genau das gleiche Wetter wie 2013 am heutigen Tag erlebe.

Als ich wieder loslaufe spüre ich, wie mich die Emotionen ein- und schon fast überholen. Meine Augen füllen sich immer wieder mit Wasser, bei den Gedanken an die knapp 110 vergangenen Tage. Es sind aber auch all die Erinnerungen an 2013, 2015 und die Eindrücke aus insgesamt 15 Jahren NPL Geschichte. Ehrlich gesagt ist mir zum losheulen zu Mute, das Ganze untermalt von einem glücklichen Lächeln und sicher auch Stolz, es so gut geschafft zu haben. Nicht zu vergessen all das Glück, das mich die ganze Tour begleitet hat und eine praktisch unversehrte Gesundheit, die mich nicht im Stich liess.

Da steht er… der Leuchtturm

Die 11 Kilometer verstreichen wie im Flug. Ich laufe sie ohne Unterbruch, tief in Gedanken versunken. Und dann kommt er endlich ins Blickfeld, der Leuchtturm von Lindesnes!

Schon von weitem sehe ich Cornelia und Svein, die die Schweizer- und Norwegerfahne lautstark schwenken.

Ich bin überglücklich, erleichtert und spüre eine grosse Zufriedenheit in mir. Alles hat gepasst und bestens funktioniert.

Schon vor längerer Zeit habe ich mich entschlossen, mich beim Leuchtturmwärter nicht anzumelden und mich nicht im Norge på langs Buch einzuschreiben. Nicht dass ich das Gefühl habe, Norge på langs nicht gelaufen zu sein. Auch wenn es Lücken hat, so waren es schlussendlich knapp 2`400 Kilometer und für mich absolut erfolgreich. Mein Grundsatz von 2013, als ich hier an diesem Wegweiser stand, war, das Land zu Fuss zu durchqueren und das Schritt für Schritt. Damals konnte ich nicht erahnen, was kommt und dass es für mich Einschränkungen geben wird. Ich habe diese gemeistert und darauf bin ich nicht weniger stolz und glücklich. Es 2024 bei meinem zweiten Anlauf wieder nicht geschafft zu haben, war und ist keine Enttäuschung für mich. Wer meine Tour mitverfolgt hat, wird meine Einstellung wohl bestens verstehen.
Ich habe 2013 meinen Eintrag in diesem Norge på langs Buch gemacht und heute mache ich meinen definitiven Eintrag von Norge på langs in meinem Leben. So soll es sein.

Cornelia und Svein nehmen mich mit nach Mandal, wo ich bestens verpflegt werde, mit ihnen auf die Tour anstossen und meine Emotionen etwas herunterholen kann.

Liebe Cornelia, lieber Svein
Vielen, vielen lieben Dank euch beiden️! Ihr gehört für mich untrennbar zu dieser 15 jährigen grossartigen Geschichte dazu. Ihr habt mich beim Start, während meiner Touren und schlussendlich am Ziel begleitet. Für mich ist das wohl die schönste Anekdote der ganzen Norge på langs Tour in Norwegen. Ich werde das nie vergessen! Tusen, tusen, tusen takk!

Mittlerweile sitze ich im Bus nach Oslo und habe mich durch die ersten rund 100 Nachrichten und Mails durchgelesen. Rund 200 warten noch auf mich und ich bin einfach nur sprachlos, da es immer noch reinplätschert. Es rührt mich wirklich zutiefst und mein Tränenkanal ist wohl bald trockengelegt.
Während der Tour ist man sich das oft gar nicht bewusst, wie viele Menschen da mitfiebern, mitlesen, virtuell mitlaufen. Die Reaktionen gehen tief ins Herz und es ist kaum möglich, genügend Dankbarkeit zu zeigen.

Gerade die ehemaligen NPL Läufer/innen sind so unglaublich nah dran an der Tour, haben ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen gemacht. Es ist wunderschön mitzuerleben, wieviele 2024 „mit an Bord“ waren. Läufer/innen aus über 10 Jahren, aus der Schweiz, Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande, Österreich, Schweden, Finnland und natürlich nicht wenige aus Norwegen. Es ist eine tief verwurzelte Community, die mitfühlt, mitleidet und sich mitfreut. Der allergrösste Teil hinterfragt keinen Sinn, oder diskutiert über falsch und richtig, man freut sich einfach für den anderen. Sei es zu Beginn ein einfaches, schlichtes „God tur“, eine schöne Mail unterwegs oder eine herzliche Gratulation zum Schluss. Etwas was mich unheimlich freut und ich gerne in mein weiteres Leben mitnehme!

Ich möchte mich ganz herzlich bei meinem Team auf der Arbeit bedanken, welches das zum Teil schon zum dritten Mal! 13/15/24 mitmacht und mir den Rücken freigehalten hat. Einen Schritt zurückzustehen, um anderen die Möglichkeit zu geben, sich Träume zu verwirklichen, erfüllt mich mit grossem Respekt und Dankbarkeit. Ihr seid definitiv die Besten!!

Und ein riesiges, herzliches Danke geht natürlich an Anja, deren Ankunftstag am Nordkap sich am 8.10.24 bei meinem Rückflug in die Schweiz, zum ersten Mal jährt. „Wie oft habe ich an eure Tour 2023 gedacht, wie anspruchsvoll und fordernd sie war und wie oft ich schon fast Sonntagsnachmittagsspaziergangs-Verhältnisse auf gleichen Abschnitten gehabt habe, auf welchen ihr gekämpft habt!“

Anja hat für mich einen unglaublichen Support im Hintergrund geleistet, hat organisiert, rumtelefoniert und mir den Weg geebnet. Und sie hat viel Positivität und Zuspruch geleistet, wenn der Martin mal wieder rumgehadert hat.

„Ohne dich wäre ich nicht halb soweit gekommen“!
Danke Anja❤️

Es folgt als letztes: Nach der Tour