Hardanger voraus
„Man sollte das Glück nie herausfordern, aber wenn es einem in den Schoss fällt, sollte man es willkommen heissen!“
Ich bin von meiner eigenen lyrischen Ader schon fast beeindruckt, aber irgendwie habe ich tatsächlich recht. Seit bald 2000 Kilometern auf meinem Weg südwärts habe ich eine Glückssträhne nach der anderen mit dem Wetter. Ein paar wenige Ausnahmen, die zwar zwei Umgehungen nötig gemacht haben, aber welche das Ganze als solches nicht trüben können.
Der Wettercheck am Morgen lässt mich frohlocken und jubilieren. Auf meinem Weg von Finse nach Haukeliseter wird wieder perfektes Wetter herrschen, die Verhältnisse sind nach dem Kälteeinschub auch wieder normal und seit Kilpisjärvi (!!) habe ich kaum mehr eine Mücke oder Bremse gesehen, geschweige denn gespürt. Mittlerweile bin ich langsam der Überzeugung, dass ich keinesfalls noch enttäuscht sein könnte, wenn morgen die Tour aus irgendeinem Grund ein Ende finden würde.
Tag 92 / Finse DNT-Kjeldebu DNT

Ich sitze am Morgen gemütlich mit dem ganzen DNT Vorstand beim Frühstück und wir geniessen bei strahlendem Sonnenschein die fantastische Aussicht auf den Gletscher vis a vis.
Mein Weg führt mich heute um das halbe Gletscherplateau herum Richtung Hardangervidda. Mit dem Hallingskarvet National Park habe ich gestern meinen zweitletzten National Park auf meiner Tour beendet und nun folgt also der letzte und auch grösste Park.
Nach dem Frühstück werde ich sehr herzlich von allen mit vielen Glückwünschen verabschiedet und nach dem Webadressenaustausch, werde ich wohl bis zum Schluss unter intensiver Beobachtung des DNTs stehen 😉




Es ist schlicht ein Traum draussen. Das Finsevatnet liegt wie ein Spiegel vor mir und darin spiegelt sich der Hardangerjøkulen in seiner ganzen, noch verbliebenen Schönheit. Die Luft ist schon sehr früh am Morgen warm und trocken und es weht kein Lüftlein.
Meine Augen kleben an der Landschaft und ich stolpere mehr durch die Gegend, als dass ich wandere.




Es wird etwas steiniger und hügeliger am südöstlichen Rand des Plateaus. Die Wege sind aber super begehbar und man sieht an deren Ausmass, dass es hier im Sommer viele Leute hat. Jetzt bin ich praktisch alleine.







Kaum befinde ich mich auf der Südseite des Plateaus, beginnt sich das Gelände abzuflachen. Ein älterer englischer Gentleman, der seit 20 Jahren in Norwegen lebt, meint „ab hier hast du es geschafft, das Gelände wird gemütlicher bis Haukeliseter“. Ich schenke ihm meinen Glauben, ist er doch die Strecke Finse-Haukeliseter schon rund 30x gelaufen!
In seiner alten Tweed Wanderhose mit den roten Socken, dem alten aus der Schweiz stammenden ledernen Rubi Rucksack aus Grindelwald und den abgenutzten Lederstiefeln, sieht er fast aus wie ein Relikt aus alten Zeiten. Eine halbe Stunde sitzen wir in der Sonne und reden über dies und das. Als wir uns verabschieden, drückt er mir die Hand, wünscht mir Glück und fügt an, dass er es sehr schön fand, dass ich mir die Zeit genommen habe, mit ihm zu sprechen. Heutzutage seien die Menschen nur noch am rumrennen, schneller, weiter, besser und haben keine Zeit mehr für andere. Leistung ist für viele das Non Plus Ultra und ohne gehe es ja nicht mehr. Das „Schlusswort“ bleibt mir noch eine Weile in den Ohren. Wie recht er doch hat!




Ich kann mich kaum sattsehen an diesen Schönheiten hier. Kaum gewöhne ich mich an einen Landschaftstypen, schon ändert er sich wieder.




Ich weiss zuerst nicht, ob es die Wärme ist oder ob ich einen schlechten Tag eingefangen habe… irgendwie läuft es heute nicht und ich komme nur mühsam vorwärts. An der Landschaft kann es nicht liegen, schöner geht es nicht.
In meinem Kopf fühlt sich alles plötzlich so schwer an und ich kann all die Eindrücke nicht mehr speichern. Ich bringe das alles nicht mehr in meinen Kopf, meine Festplatte ist komplett voll von diesen drei Monaten. Ich habe so unendliches Glück mit allem und Widrigkeiten sind mir fremd. Tag für Tag prasseln diese Schönheiten auf mich ein und ich finde keine Zeit, dies in Ruhe zu verarbeiten, denn jeden Tag erwarten mich wieder tausend neue Eindrücke. Es mag sarkastisch tönen, doch ich hätte wohl auch mal zwischendurch ein paar Schlechtwettertage gebraucht, um alles setzen zu lassen.
Ich mache eine längere Pause, setze mich hin und lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Absurder könnte die Situation gerade nicht sein. Mir kullern Tränen über die Wangen weil ich nicht mehr weiter weiss und gleichzeitig bin ich überglücklich, wo ich gerade sitze. Ein kurzes Telefonat mit Anja gibt mir etwas Luft und Kraft, um zumindest mal in die nächste Hütte zu kommen.





Ich bin überglücklich als ich in der Kjeldebu Hütte ankomme. Wie so oft in den letzten Tagen und Wochen, bin ich alleine auf der Hütte. Die Hütte ist nicht sehr weit weg von der Strasse, die durch die Hardangervidda führt und deshalb sieht man auch die Spuren der Tagesbesucher. Es ist etwas schmudelig, nicht aufgeräumt und dreckig. Schade, denn die Hütten wären absolut komfortabel und gross. Der Proviantraum würde Futter für eine halbe Armee hergeben, da kann ich mir ein tolles Menu kreieren heute Abend.
Als ich nach dem heissen Tag gemütlich ein Bad im angrenzenden kühlen Bach nehme, kommt ein junges Paar zur Hütte. Die beiden stammen aus dem Süden von England und sind auf einer fünf tägigen Tour um den Gletscher herum. Wir verstehen uns ausgezeichnet und nach einem gemütlichen Sonnenuntergangs-Apéro kochen wir zusammen ein gutes Nachtessen und diskutieren noch spät in die Nacht hinein.
Sie sind heute Abend gerade so was wie meine geistige Rettung. Ich kann endlich meine schweren Gedanken ablegen und geniesse die Gesellschaft. Es lenkt mich ab und meine Zuversicht steigt von Stunde zu Stunde. Ich mag gar nicht daran denken, wie ich mich heute Abend alleine in dieser grossen Hütte gefühlt hätte.


Der Tag beginnt heute sehr früh, denn meine Etappe zur Sandhaug Hütte des DNT ist über 35 Kilometer lang. Die beiden Engländer schlafen noch tief und fest als ich die Hütte verlasse.
Tag 93 / Kjeldebu DNT-Sandhaug DNT

Es herrscht dichter Nebel als ich die zwei Hügel zu Beginn bewältigen muss. Die Ruhe, die reine und feuchte Luft scheint aber Wunder zu wirken und heute fühle ich mich viel besser und stärker. Es scheint, dass meine Defragmentierung der Festplatte in meinem Kopf noch etwas Platz geschaffen hat.
Kaum bin ich auf dem zweiten Hügel und somit auf der Hardanger Hochebene angekommen, lichtet sich der Nebel etwas und ich werde in eine fantastische, mystische Landschaft gebettet.




Wie der Engländer gesagt hat, ab hier wird es weit, flach und unendlich. Ich fühle jede Faser in mir, atme tief ein und spüre wieder viel mehr Energie.
Zusätzlich bekomme ich eine Nachricht von Zuhause, die mir ebenfalls etwas Auftrieb gibt. In den letzten Tagen war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich die Tour abbrechen soll, um nach Hause zu meinem verunfallten Vater zu gehen. Die Situation hat mir zu schaffen gemacht, denn hier oben konnte ich nichts für ihn und meine Stiefmutter tun. Die Familie hat mir nun aber die Nachricht geschickt, dass ich meine Tour weiterführen soll. Machen könne ich so oder so nichts und es würde meinem Vater auch schon besser gehen.
Plötzlich tönen Motorgeräusche durch das Fjell und eine graue „Schlange“ windet sich quer durch diese ockerfarbene Weite: die Hauptstrasse E7. Die Strasse durchschneidet diese einsame Weite und es fühlt sich schon sehr eigenartig an, plötzlich mit der Zivilisation konfrontiert zu werden. Eine Strasse, die ich auch schon mehrere Male befahren habe und jetzt zu Fuss überquere.



An dieser Strasse liegt auch die Fjellherberge Dyranut. Meist ist sie sehr früh geschlossen und ich habe mich somit auch nicht gross während der Planung mit ihr befasst.

Doch da stehen Autos vor der gelben Fjellherberge. Hat die echt noch offen? Sie hat… was für eine schöne Überraschung. So kann ich meine Morgenpause gemütlich bei frischen Zimtschnecken, Cappuccinos und O-Saft geniessen. Die Besitzerin sagt, dass es der letzte Saisontag sei und ich als NPLer nichts bezahlen müsse und drückt mir noch eine Zimtschnecke für den Weiterweg in die Hand, grossartig!

Nach dieser schönen, genussreichen Pause geht es weiter, in die unendlich weite Vidda.




In dieser flachen Landschaft, auf diesen breiten Wegen, komme ich rasend schnell vorwärts. Ich bin wieder voll motiviert und versuche, meinen Kopf etwas herunterzufahren.
Immer wieder hört man den typischen Doppelknall der Schrotflinte. Es ist Rypenjagd (Schneehühner) und die Hardangervidda wird von den Jäger/innen bevölkert. Es lohnt sich sehr, nicht gerade irgendwo in einem Gebüsch ein Nickerchen zu machen, wenn man den Hosensatz nicht voller Schrot haben möchte!





Auf Gaia GPS sieht die Karte aus wie ein Schnittmuster einer Schneiderei oder das Strickmuster von Oma. Gaia GPS hat praktisch alle ATV-Tracks der Sami als Weg implementiert. Und von denen hat es hier zuhauf! Bei der Planung habe ich den erstbesten Weg genommen und nun herausgefunden, dass es noch kürzere Möglichkeiten gibt, was mir heute eine Ersparnis von rund drei Kilometern geben wird. Bei rund 35 Gesamtkilometern nicht wenig.

Nach knapp 35 Kilometern erreiche ich die grosse DNT Herberge Sandhaug. Die bediente Herberge hat aber seit einer Woche schon Saisonschluss und das Haupthaus ist geschlossen. Nebenan steht die Selbstbedienungshütte, die alles hat was man braucht, inkl. einem gut gefüllten Proviantraum.


Anhand der Selbstbedienungshütten neben den bedienten Häusern kann sehr gut auch die Einstellung der Hüttenwart/innen abgelesen werden, was die Nachsaisonkundschaft angeht. In Sandhaug ist es urgemütlich, sehr sauber, bestens eingerichtet und hier und dort ist etwas Dekoration angebracht. Die Leute haben sich sehr viel Mühe gegeben, dass sich die Wanderer auch nach der Hauptsaison willkommen fühlen. Tusen Takk Sandhaug!



Immer wieder kommt in meinem Blog auch die Frage nach Norgi auf, meinem Maskottchen der letzten Tour. Aber natürlich ist Norgi mit auf Tour! Seit 93 Tagen sitzt das NPL Maskottchen genüsslich im Rucksack und lässt sich durchs Land tragen.

Spät am Abend kommt dann tatsächlich noch ein norwegisches Paar ziemlich abgekämpft von der Hütte Hadlaskard rüber. Es sei etwas weit gewesen und die Sommerbrücken seien schon abgebaut.
Öha… sie sprechen etwas an, womit ich noch gar nicht gerechnet habe. Tatsächlich werden die Sommerbrücken nach Schliessung der bedienten Hütten meist rückgebaut, um sie vor Schäden durch Schnee und Schmelzwasser zu schützen. Oft lässt man sie noch für die Jäger/innen stehen, bis die Rypejagd (Schneehuhnjagd) vorbei ist und die geht bis… heute!
Nun gut, es ist im Moment sehr trocken hier und die Wasserläufe sehr niedrig. Dies sollte kein Problem sein und bei dem Wetter ist das Waten durch Bäche eher eine willkommene Art der Erfrischung. Doch es benötigt Zeit und Aufwand, je nach Grösse des Bachs.
Ich schaue auf meine Karte und zähle 10 Brücken bis Haukeliseter. Ein paar wie diese vis a vis von Sandhaug werden wohl Ganzjahresbrücken sein, aber es wird sicher auch Sommerbrücken haben.



Nach einem wunderschönen Abend in einer urgemütlichen Hütte geht der Morgen mit etwas Morgennebel los.
Tag 94 / Sandhaug DNT-Litlos DNT




Der Weg führt entlang des Sees Nordmannslågen an der privaten, auch geschlossenen Fjellherberge Besso vorbei.



Und dann ist es also soweit, die Besso-Brücke fehlt. Doch das Überschreiten des Baches ist problemlos und frisch gewaschene Füsse sind kein Nachteil!


Durch viele kleine Täler und Hügel schlängelt sich der Weg südwärts. Plötzlich öffnet sich die Landschaft in ihrer ganzen Grösse und das Grjotfjell präsentiert sich in wunderschönsten Herbstfarben in allen Braun- und Ockertönen. Mitten drin die vielen Seen in ihren Stahl- und Azurblautönen.


Der Hårteigen steht dominant an der Westseite des Fjells.




Was mich mittlerweile sehr beruhigt ist, dass mein Kopf wieder mitmacht und ich die ganzen Schönheiten in mich aufnehmen kann. Es wäre grenzenlos schade, hier einfach nur durchzulaufen um Kilometer zu fressen.


Langsam wird es wieder etwas hügeliger und die Weite nimmt ab. Mein Ziel, die DNT Herberge Litlos, hat ebenfalls schon Saisonende und auch hier hat es eine selbstbediente Hütte.


Die Lage ist zwar traumhaft, aber die Hütte eher etwas schmuddelig und nicht so gemütlich wie Sandhaug. Vor allem herrscht hier ein eigenartiger Geruch aus Diesel und etwas Undefinierbarem. Im Keller des Hauses steht das Stromaggregat für Litlos, was zwar abgestellt ist, aber der Geruch hängt immer noch in der Luft. Später erfahre ich, dass der zweite Geruch von Jägern mit ihrer Beute, den Rentieren, am Vortag stammen muss. Die Männer haben die Tiere in der Hütte zerlegt um sie dann mit dem Hubschrauber abtransportieren zu können.
Am Abend sehe ich mit Schrecken, dass die Akkus von Smartphone, Uhr und Stirnlampe ziemlich leer sind und ich meine Powerbank in Finse nicht voll aufgeladen habe. Seit drei Hütten hat es keine Lademöglichkeit mehr gehabt und meine Hoffnung liegt auf der nächsten, der Hellevasbu. Ist zwar nicht weiter schlimm, da es hier keinen Mobilfunkempfang hat, die Wege deutlich markiert sind, aber mein Smarthone ist auch meine Kamera. Bis hierher hatte ich nie Mühe, um an Elektrizität zu kommen. Meine 27`000 Powerbank musste ich kaum mal anzapfen und durch das habe ich mich gar nicht mehr so um eine Vollladung des Akkus gekümmert. Gerade hier hatte ich durchgehend mit Solarpanels gerechnet, da es doch eines der meistbesuchten Fjells Norwegens ist. Während die bedienten Teile der Hütten mit Dieselaggregaten und Solarpanels ausgerüstet sind und praktisch durchgehend Strom anbieten, ist bei den selbstbedienten Hütten nichts dergleichen zu finden.
So geht es heute wohl früh ins Bett und morgen…? Die Hellevasbu ist gut 17 Kilometer entfernt, also nicht eine ganze Tagesetappe. Bis Haukeliseter sind es dann nochmals rund 22 Kilometer. Mittlerweile ist in den Wetterprognosen ein Wintereinbruch für die nächsten Tage angekündigt und das Schlechtwetter soll einen Tag früher kommen als noch gestern vorausgesagt. Somit kann ich morgen noch bei bestem Herbstwetter Haukeliseter erreichen und dann vielleicht sogar zwei Ruhetage einplanen.
Ein weiterer Punkt ist, dass ich seit Tagen anhand der Instagramposts gesehen habe, dass die beiden Schweizer Sophie und Flo, welche ich das letzte Mal vor drei Monaten in Alta getroffen habe, unmittelbar vor mir unterwegs sind, mit Ziel Haukeliseter. Sie jetzt noch zu treffen, würde mich sehr freuen!
Am späteren Nachmittag kommt ein junger Norweger in Litlos vorbei. Ihn treffe ich seit Finse mehrere Male am Tag, denn wir haben die gleiche Strecke und überholen uns immer wieder gegenseitig. Da er ein paar Kilometer nach Sandhaug gezeltet hat, will er noch weiter zur Hellevasbu. Mmmhh… soll ich das vielleicht auch noch machen? Nochmals 17 Kilometer auf die 27 Kilometer von heute raufpacken? Eigentlich fühle ich mich noch nicht müde und 17 Kilometer wären in knapp vier Stunden machbar. Aber es würde meine rote Linie von 40 Kilometern deutlich überschreiten und die Gegend hier ist wirklich wunderschön. Nein, ich bleibe hier und geniesse einen frühen Feierabend.
In den letzten neun Tagen habe ich sage und schreibe zwei volle Tage herausgeholt auf meinen Zeitplan! Es läuft tatsächlich absolut brilliant und ich habe nie auch nur eine Sekunde den Gedanken, dass ich zu schnell unterwegs bin und mir keine Zeit nehme. So viele Pausen wie ich einlege, so viele Fotohalte, die ich mache, da sollte ich gefühlt viel länger unterwegs sein.
Tag 95 / Litlos DNT-Haukeliseter DNT

Der Morgen erwacht sehr herbstlich mit Reif und Nebel, als ich um 7.15 starte. Ich komme kaum vom Fleck und bleibe staunend immer wieder in der klirrenden Kälte stehen. Was für eine einzigartige Stimmung! Ich atme tief ein und lasse diese unglaubliche Ruhe direkt in mein Herz und meine Seele gleiten.


Ja und dann habe ich ja noch acht Brücken vor mir, von denen ich nicht weiss, ob sie noch stehen. Die erste ist zum Glück eine Ganzjahresbrücke und führt über einen grösseren Bach. Alsbald verschwinde ich für eine Stunde im stockdicken Nebel, bevor der Weg ansteigt und über das Nebelmeer kommt.

Die zweite Brücke steht auch noch, aber hier wurden schon die Geländer und Halterungen abmontiert, da wird es nicht mehr lange gehen… Glück gehabt.
Mittlerweile kann ich mich mental wirklich gut einstellen und ich spüre, dass ich heute viel Power in den Beinen habe. Ich denke, es gut bis Haukeliseter zu schaffen.



Statt 5.5 Std. wie vom DNT angegeben, benötige ich gerade mal 3.5 Std. um zur Hellevasbu zu kommen. Sicher war ich schnell, aber warum der DNT so viel Zeit berechnet, erschliesst sich mir hier nicht.

In der Hütte treffe ich Gudrid vom DNT an, welche mit ihrem Sohn gerade die Hütte winterfest macht. Ich werde nur eine Pause machen und etwas essen, da ich mich noch total fit fühle für 22 weitere Kilometer. Eigentlich schade, denn die Hütte ist super gemütlich und das volle Gegenteil von Litlos. Gudrid erzählt mir auch, dass sie und ihr Sohn morgen auf dem Weg nach Haukeliseter alle vier Sommerbrücken demontieren werden. Hui… Glück gehabt, denke ich gerade.
(Die Brücken bestehen aus leicht demontierbaren Elementen. Letzte Woche haben Hüttenwarte und Jäger schon alle Geländer und Zustiege entfernt und so kann Gudrid nur noch die Bodenelemente wegnehmen und winterfest deponieren. In der Regel eine Sache von wenigen Minuten.)
Auch wird sie morgen das Messingschloss des DNTs von der Hütte entfernen und die Gebäude verschliessen, bis die Schlösser für den Winter wieder angebracht werden. Ups, da hatte ich jetzt doppelt Glück!
Das erstaunt mich nun definitiv. Ich habe zwar gesehen, dass der DNT neuerdings alle Hütten auf den 15. Oktober fix schliessen wird (was ich persönlich nicht verstehen kann), aber wenn das schon vorher passiert?? Ich denke gerade auch an mich. Hätte ich die Jostedalsbreen- und Breheimentour gemacht, wäre ich wahrscheinlich schon vor verschlossenen Hütten gestanden und auch die Brücken wären weg gewesen. Kein netter Gedanke!
Dass der DNT auf die neuen unerfreulichen Zustände mit den Hütten reagieren muss, ist mir völlig klar. Doch ob nach der Saison tatsächlich so viele Leute 50-60 Kilometer laufen, um in einer Hütte eine Party zu feiern, da kommen bei mir doch Zweifel auf. Der Hauptschaden passiert wahrscheinlich vorher und hier haben sie ja auch schon reagiert und die selbstbedienten Hütten während der Öffnungszeiten der bedienten Hütten verschlossen.
Ich denke auch gerade an das norwegische Paar aus Sulebu hinter mir, das ich mittlerweile 2, 3 Tage distanziert habe und das noch voll mit allen Hütten und Brücken rechnet. Und es kommen ja noch ein paar NPLer auf Südkurs hinter mir.
Die Schlösser bei den Hütten weiter in der Vidda werden dann an einem der folgenden Tage per Hubschrauber abgenommen.
Natürlich verstehe ich die Hüttenwartin, dass gerade wenn Schnee angesagt ist, niemand mehr extra wegen dem Schloss hier hochstapfen will, um es abzunehmen. Die Frage stellt sich mir echt, muss das wirklich sein? Denn gerade diese Zeit jetzt ist wunderschön hier, aber das Wetter kann auch mal sehr ruppig werden und eine Hütte kann Sicherheit bieten.
Doch insgesamt muss ich sowieso froh um meinen Gap sein. Skarvheimen und Hardanger mit Schnee und Minustemperaturen , die jetzt angekündigt sind… das ist erst recht kein netter Gedanke!
Aber trotz allem, wie immer bedanke ich mich herzlich und aufrichtig bei Gudrid und ihrem Sohn für die wertvolle und tolle Arbeit, die Möglichkeit zu schaffen, dass wir Wanderer soviel Komfort und Gemütlichkeit geniessen dürfen. Ein System, das unbedingt unterstützt und verteidigt werden muss.





Über den Årmotpass geht es ein Tal weiter und eröffnet den Weitblick auf die lange Gebirgskette der Nupsegga.

Es ist wieder einer dieser Ausblicke, die einem den Atem raubt, ehrfürchtig dastehen und voller Demut über den Horizont blicken lässt.


Noch ein letzter Pass steht mir bevor und meine Uhr zeigt schon stolze 35 Kilometer an. Ich staune selber, wie schnell ich den Hügel bewältige, immer mit dem Moment des Erschreckens, von wilden Lemmingen angekeift zu werden.

Dann endlich öffnet sich der Blick auf Haukeliseter.




Doch mit schnell ins Feierabendbier ist nichts! Die fünf Kilometer ziehen sich unendlich lange von Tal zu Tal. Nichts, was motiviert, bei den schon gelaufenen Kilometern.


Der letzte Sonnenstrahl scheint mir noch den Weg zur Herberge zu zeigen.


Dann endlich, der letzte, schlammige Abstieg ins Paradies! Während ich mein vorreserviertes Zimmer einchecke, läuft mir schon Flo über den Weg. Die beiden sind auch gerade vor kurzem hier angekommen und haben für zwei Nächte gebucht. Auch ich habe zwei Nächte gebucht mit der Option auf eine dritte Nacht.
In Haukeliseter ist für mich nun mal etwas Ruhezeit angesagt, während der ich prüfen kann, wie und ob es überhaupt weitergeht. Die Wetterprognosen deuten klar auf einen Wintereinbruch mit Schnee und Minustemperaturen hin. Die Vesthei liegt durchschnittlich auf 1000-1200 MüM, ist sehr Westwindwetter exponiert und auch anfällig auf Herbststürme. 2022 habe ich hier Anfangs Oktober in der Ryfilkshejane, in der DNT Hütte Bossbu, einen Orkan ausstehen müssen. Die Gewalt war echt beeindruckend! Orkanartige Stürme sind zwar keine angesagt, doch Schnee und Eis.
Mit Sophie und Flo geniesse ich jetzt aber mal die zwei Tage in Haukeliseter. Das Wetter schlägt sehr schnell um und so geniessen wir es, an der Wärme zu sein. Essen, Kleider waschen, essen, ausruhen und schlafen, essen… so läuft der Tag ab.
Wir drei wälzen uns durch die Wetterprognosen rauf und runter, doch die Aussichten sind alles andere als positiv. Sophie und Flo haben keine eigentliche Norge på langs Tour gemacht, sondern sich die Filetstücke aus dem Land geschnitten und sind immer südwärts in die schönsten Ecken gereist. So haben sie auch weit über tausend Kilometer erwandert. Ihr Ziel wäre nach dem Nordkap aber auch Lindesnes gewesen. Die beiden hadern jetzt ziemlich mit der Vesthei und dem Wintereinbruch, der angesagt ist. Sie sind vor allem Zeltbewohner und für das wird es jetzt wohl definitiv zu kalt und ungemütlich.
Nach langem hin und her, entscheiden sich die beiden, hier ihre Tour zu beenden, was ich sehr gut verstehen kann. Auch bei mir kommt der Gedanke auf: „muss ich mir das jetzt noch antun mit der Vesthei?“
Nach meiner so wunderschönen Tour bis hierhin stellt sich tatsächlich die Frage, ob ich mich jetzt nur noch aus Ehrgeiz durch den Rest quälen will. Schlussendlich könnte ich mir die ganze Tour mit einem solchen Kapitel noch verderben und das will ich definitiv nicht. Auf der anderen Seite ist mir aber auch klar, ich habe in guter Distanz immer bestens ausgerüstete Hütten, die garantiert offen sind, ich bin topfit und kann auch ruppigeres Wetter ausstehen. Zu meiner grossen Freude sind Flo und Sophie bereit, mir einen Teil meiner Ausrüstung in die Schweiz mitzunehmen. Zelt, Schlafsack, Liegematte und ein paar kleinere Sachen benötige ich nicht mehr und somit kann ich leichter und effizienter unterwegs sein.
Die Wetterprognosen von yr.no waren dieses Jahr permanent etwas zu pessimistisch. Wenn ich das mit einberechne und ich die Höhenlage der Hochs und Tiefs beobachte, habe ich eine gute Chance, dass sich der Wintereinbruch mässig zeigen wird. Falls es wirklich sehr dick kommen sollte, gäbe es in der Vesthei den einen oder anderen Ort, wo ich rauskommen würde und die Hütten sind mit Provianträumen bestens ausgerüstet. So könnte ich locker auch mal 2, 3 Tage aussitzen. Zeit habe ich eh mehr als genug.

Tag 96+97 / Haukeliseter Ruhetage
So fällt der Entscheid schlussendlich aufs Weiterlaufen und ich verlängere meinen Aufenthalt noch um eine Nacht, damit ich das Gröbste hier aussitzen kann.
Sophie und Flo: Es hat mega Spass gemacht, euch schon im Vorfeld der Tour kennenzulernen und natürlich das unerwartete Treffen in Alta, was mich sehr gefreut hat. Ich habe eure Tour immer mit Freude und Begeisterung verfolgt, herzlichen Dank nochmals für die Blogeinladung. Ihr habt immer irgendwie auch zu meiner Tour 2024 dazugehört und dass wir uns nun auch noch nach über drei Monaten in Haukeliseter treffen konnten, war für mich ein absolutes Highlight.
Vielen herzlichen Dank für den Ausrüstungstransport zurück in die Schweiz. Ihr habt mir da einen ganz grossen Gefallen gemacht und mir mit dem Leichtgepäck für einen perfekten Tourabschluss gesorgt! Femti Tusen takk!

Der zusätzliche Ruhetag zahlt sich definitiv aus. Während Sophie und Flo am Morgen auf den Bus gehen, sitze ich stundenlang am grossen Fenster in der Fjellstue und beobachte, wie die Sturmwinde den Schnee über den See peitschen. Es ist gut, dass viel Wind drin ist, das verbläst den Schnee und er bleibt so nicht in Mengen liegen. Die Prognosen haben sich heute etwas verbessert und zeigen einen Mix aus Herbst, Winter und Frühling. Ich plane, die Vesthei bis nach Ljosland runter in acht Tagen zu durchqueren, was jeden Tag weit über 30 Kilometer in ziemlich hügeligem Gelände bedeutet. Das wird nochmals anspruchsvoll, doch meine Tour neigt sich langsam dem Ende zu und ich spüre nochmals eine grösser werdende Motivation, das jetzt durchzuziehen. Ich freue mich auf die letzte Etappe!
Das nächste Kapitel folgt: Endspurt in der Vesthei