Sprung nach Skarvheimen
Tag 87 / Grotli-Gjøvik (Transfer)
Anja und ich stehen in der eisigen Kälte an der Haltestelle vor dem Hotel. Erst in allerletzter Minute vor der Abfahrt haben wir uns aus der wohligen Wärme ans Freie begeben und jetzt hat der Bus auch noch Verspätung. Gerade mal 2° hat das Thermometer am Hoteleingang angezeigt und mit dem unangenehm starken Wind, wirkt alles noch um einiges kälter.
Ich drehe mich zum Skridulaupenpass um und sehe dort, wie die Sturmwinde die Nebelfetzen und den Schnee über den Pass fegen. Mir gefrieren die Zähne zusammen bei dem Gedanken, dass ich jetzt dort rüber müsste. Nein, die nächsten Tage wären eine nicht ungefährliche Tortur gewesen bei diesen Verhältnissen. Hier lasse ich gesunden Menschenverstand vor Ehrgeiz walten.
Während uns der Bus Richtung Otta bringt, kreisen meine Gedanken hin und her. Zum einen bin ich doch stolz auf mich, dass ich diese Entscheidung so getroffen habe und die Situation mit Verstand beurteilt habe. Zum anderen ist mir auch bewusst, dass es sehr wohl schwieriger gewesen wäre, wenn ich bis hierher jeden Meter gelaufen wäre und jetzt keinen Gap einbauen möchte. Mit dem Umfahren wird es für mich deutlich einfacher und sicherer, aber wie schon so oft erwähnt, ich möchte ja laufen und nicht fahren. Doch nur Kilometer abzuwandern, die für mich keinen Reiz haben und auch keinen grossen Sinn machen, darauf habe ich keinen Bock und für das bin ich auch nicht hier.
Was ich in diesem Moment aber noch nicht weiss und auch nicht erahnen kann, es wird eine Glücksentscheidung sein und mir einen Tourabschluss mit unvergleichlicher Schönheit bescheren. Wäre ich den Umweg gelaufen oder hätte ich das Schlechtwetter ausgesessen, wäre es das absolute Gegenteil geworden!
Und natürlich macht mich der Tag sehr traurig, weil Anja wieder nach Hause reist. Die zwei Wochen waren ein absoluter Traum und wir harmonieren auch unterwegs perfekt zusammen, haben viel Spass und Anjas eigene Erfahrung aus ihrer Tour, ist auch für mich sehr hilfreich gewesen.
Mit dem Zug geht es von Otta weiter nach Lillehammer, wo ich mich von Anja verabschieden muss. Für mich geht es weiter mit dem Bus nach Gjøvik ins Hotel. Unglaublich, ich bin schon in Sichtweite der startenden Flieger von Oslo Gardermoen. So weit südlich bin ich schon!
Tag 88 / Tyinkryset-Sulebu DNT

Nach dem Frühstück geht es zum Bus nach Bergen. Dieser bringt mich nach Tyinkrysset, meinen Wiedereinstieg ins Wandern.
Es gibt Ortsnamen, die ich seit über 10 Jahren ausspreche, weitervermittle und Tipps darüber abgebe, aber nie gesehen habe. Tyinkrysset ist so einer. In all der Zeit macht man sich Bilder von diesem Ort, hat Vorstellungen darüber und scheint den Ort zu kennen, bis man dort steht und komplett überrascht ist, dass alles ganz anders ist.


Kurz nachdem ich mich auf den Weg zur sechs Kilometer entfernten Sulebu Hütte des DNT mache, wird mir klar, warum der Coop hier so gross ist!

Unglaublich…Hütte an Hütte, wie ein Dorf, fast wie eine Stadt.
Schon beim Frühstück im Hotel habe ich heute eine ungewöhnlich grosse Energie gespürt. Ich bin zu 150% bereit jetzt die Tour nach Hause zu bringen und habe eine riesige Vorfreude darauf. Mit Sicherheit waren die letzten zwei Wochen mit Anja und der unwahrscheinlich schönen Etappe, ein richtiger Booster für mich. Ich fliege den Berg hier hoch und in meinem Kopf fliegen Hummeln. So viele Hummeln, dass ich unterwegs glatt für ein paar hundert Meter nach eine Pause meinen Rucksack stehen lasse und ohne loslaufe! Gut hat das niemand gesehen, doch wer das Relive Video zum Tag anschaut, wird den Moment unschwer erkennen 😉




Zuerst bin ich noch alleine, dann kommt ein norwegisches Paar, das nach seiner Pensionierung Norge på langs in Angriff genommen hat. Sein kurzer Kommentar dazu: Never, never ever again… never!! Das sagt so ziemlich alles! Die zwei sind aber trotz ihrem „Tourstress“ noch gut gelaunt und wir erzählen uns von unseren Touren. Sie haben sich in der letzten Hütte für drei Tage verkrochen, um das schlechte Wetter auszusitzen. Ihre Erzählungen bestätigen meine Entscheidung nochmals aufs tiefste.
Die Distanzen zwischen den Hütten in Skarvheimen sind eher schwierig. Von Hütte zu Hütte ist es etwas wenig, wenn man eine auslässt, wird es mit über 30 Kilometer schon wieder viel, gerade bei dem steinigen und hügeligen Terrain. Ich fühle mich aber rundum gesund, meine Probleme mit dem Bein und den Fersen sind wie weggeblasen und ich spüre, dass ich jetzt absolut fit bin und so werde ich versuchen immer eine Hütte zu überspringen.
Tag 89 / Sulebu DNT-Bjordalsbu DNT

So starte ich um 7.30 in Sulebu und denke, dass ich es heute bis zur Bjordalsbu schaffen werde und die Skarvheimhütte auslassen kann.


Der Weg führt zuerst über den Pass Suleskardet.





Der Pfad führt auf und ab, durch wunderschöne Fjelllandschaften, einsam und still.





Schon bald zieht der Weg hinunter ins Mørkedalen, wo sich die DNT Hütte Skarvheimen befindet und die private Herberge Breistølen. Die Hauptstrasse 52 geht hier durch und es hat noch viel Touristenverkehr. Die Breistølen Herberge hat aber schon Saisonschluss. Für mich ist es noch zu früh, um in die Hütte zu gehen. Sie hätte zwar elektrischen Strom und Dusche, aber die 13 Kilometer nach Bjordalsbu reizen mich mehr.
Der Weg steigt steil an, ist aber wunderschön zu gehen.








13 Kilometer sind ja nicht so viel… denkt man! Doch je nach Terrain kann das ziemlich zu Buche schlagen. Gerade die letzten vier Kilometer sind pure Blockfelder und fordern die Gelenke nochmals aufs äusserste.
Ich bin nicht unglücklich, nach 33 Kilometern endlich die Hütte zu sehen. Wie erwartet bin ich alleine hier, jetzt ist definitiv keine Saison mehr. Der Ofen ist noch warm und es hat noch Glut von den letzten Besuchern, so ist schnell Feuer gemacht. Schnell eine Dose Fruchtsalat aus dem Proviantraum geholt und die Welt hat die Steine vergessen.



Am Abend reisst der graue Panzer am Himmel endlich auf und die Sonne zeigt sich noch kurz. Eigentlich hätte es den ganzen Tag schön sein sollen und auch yr.no hat den ganzen Tag nur Sonne für meinen Standort angezeigt….Fehlanzeige! Naja, ich habe wohl zu viel geklagt, yr.no sei dieses Jahr zu negativ, das war wohl die Retourkutsche.
In der Nacht rüttelt der Wind gewaltig an der Hütte und ich bin abermals froh, in einer schützenden Behausung zu sein.
Tag 90 / Bjordalsbu DNT-Kongshelleren DNT

Von Schönwetter ist auch am Morgen nichts zu sehen, im Gegenteil: Nebel! Der Wind ist immer noch schneidend kalt und heute geht es auf über 1700 MüM. Als ich von der Hütte weggehe und über die kleine Brücke laufe, sehe ich gerade noch, wie zwei Järve (Vielfrasse) hinter einem Stein in Deckung gehen. Ha…. unglaublich, das waren nun Järv 2+3 auf dieser Tour, was für ein grosses Glück!




Die Steine sind alle mit einer dünnen Eisschicht überzogen und hier und da liegt auch noch etwas frischer Schnee zwischen den Steinen. Es ist ein Laufen wie auf rohen Eiern und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Aber es wäre nicht Nebel, wenn er nicht wunderschöne Bilder zaubern könnte, gerade wenn die Sonne aufgeht. Er ist nicht dick und so löst er sich schon bald auf.







Atemberaubend schön und es lässt mich gerade etwas vergessen, dass die Steine nass und zum Teil gefroren sind. Einfach etwas langsamer und vorsichtiger, dann geht es!

Während einer Pause beobachtet mich (sehr wahrscheinlich) ein Weisskopfseeadler ganz genau. Ein wunderschönes, grosses und elegantes Tier!




Der Weg runter durch das Trollbotn ist ein wahrer Wandergenuss. Schönheit über Schönheit und Weitblicke noch und nöcher. Das Ganze erst noch für mich alleine, was für ein Geschenk. Kaum zwei Wochen ist es her, als hier noch halbe Armeen auf ihrer Massiv Tour durchwanderten. Die Hütten alle bis unters Dach voll und vielerorts überbelegt und auch im Fjell ein Gewusel. Nein Danke, da liebe ich meine Einsamkeit über alles.
In der Ferne donnert der grosse Wasserfall Systrandfossen in den azurblauen Fødalsvatnet.


Und schon bald erreiche ich die DNT Hütte Iungsdals. Auch die hat letztes Wochenende zugeschlossen und die letzten Helfer machen gerade die Hütte winterdicht.
Wäre ich eine Woche früher dran, dann hätte ich noch viele offene Hütten mit Service angetroffen. Aber auch viele Leute! Jetzt ist es still und wunderbar ruhig überall, das werte ich höher, als alles andere!



Nach einer ausgiebigen Mittagsrast mache ich mich auf den Weg zur DNT Hütte Kongshelleren. Es ist erst Mittag und die 15 Kilometer werde ich wohl noch gut schaffen. Zuerst geht es ein Stück durch das wunderschöne Iungsdalen.





Stetig steigt der Weg an, bis auf rund 1500 MüM, wo er in eine Hochebene übergeht, dem Volafjell.
Der Volasee lädt mit herrlichem Eiswasser zum Fussbad ein und hilft, die Septemberhitze etwas zu mildern.





Mittlerweile sind es wieder über 30 Kilometer und die Hütte kommt gerade rechtzeitig in Sicht. Eine wunderschöne Etappe, aber auch lang und bei der Wärme anspruchsvoll.


In der Hütte treffe ich zwei ältere norwegische Fischer an und einen Holländer (dem ich den noch warmen Ofen in der vorherigen Hütte zu verdanken habe). Eine gemütliche Runde, die die phantastische Abendstimmung, inklusive Vollmond, geniessen darf. Der ältere der Fischer ist schon 87 und kommt seit 60 Jahren hier hoch um zu fischen. (Das Kongshellervatnet ist ein Kraftwerksee, der auf der anderen Seite einen Strassenanschluss hat). Sie seien mit dem Auto an den See gefahren und dann mit dem Boot hier rüber, wo es noch rund sieben Kilometer weglos zu Fuss bis zur Hütte geht. Alle Achtung denke ich… mit 87!



Tag 91 / Kongshelleren-DNT-Finse DNT

Ich benutze nicht gerne „überdimensionale“ Worte, aber der Morgen ist einfach episch und nicht mehr zu beschreiben. Die aufgehende Sonne im Rücken, der helle Vollmond voraus und diese unglaubliche Stille. Da stellt sich nur noch wahre Demut ein.







Ich komme kaum vorwärts und meine Smartphonekamera glüht bereits. Immer wieder setz ich mich und sauge diese wunderschöne Stimmung in mich hinein.
Doch auch heute ist ein langer Weg vor mir und so geht es weiter Richtung Geiterygghütte des DNT. Auch sie hat bereits Saisonschluss.





Geiterygg wäre ein wunderschöner Ort, doch ist die Wasserstromproduktion hier auch sehr präsent. Hochspannungsleitungen, Dämme und Strassen wohin man sieht. Leider brauchen wir alle den Stoff aus der Leitung.
Entlang des See Omnsvatnet zieht der Weg wieder ein paar hundert Meter höher und gibt ungeahnte Weitblicke zum besten.





Auf der Passhöhe, bei der kleinen geschlossenen Hütte Klemsebu, öffnet sich der Blick auf das gigantische Hardangerjøkulen Plateau. Der riesige Gletscher beherrscht die ganze Szenerie.




Während dem Abstieg nach Finse wuselt es wieder mächtig zwischen den Füssen.


Der Weg zieht sich bis nach Finse runter. Doch anhand der Wanderautobahn sieht man auch, wie viele Leute hier im Sommer unterwegs sein müssen.




Finse ist der höchstgelegene Bahnhof Norwegens und ein wichtiger Übergang zwischen Bergen und Oslo. Aber eigentlich existiert in Finse nicht viel. Ein Hotel, die DNT Herberge, ein Bahnhof und ein paar Ferienwohnungen. Die Lage am Rand des Gletschers Hardangerjøkulen ist aber natürlich einzigartig und gerade bei solchem Wetter bombastisch.
Mein Interesse besteht aber jetzt vorwiegend aus Dusche und innerlicher Erfrischung in der DNT Herberge.


Irgendwie kann ich es kaum glauben, schon in Finse zu sein! Gerade mal vier Tage habe ich von Tyinkrysset hier hin gebraucht. In den letzten drei Tagen waren das mal so um die 100 Kilometer über viel Stock und Stein. Es läuft sprichwörtlich und wie.
In Finse tagt gerade die Elite des DNTs und ich sitze am Abend mit dem Hütten-Verantwortlichen und der DNT Wanderweg-Verantwortlichen zusammen beim Abendessen. Natürlich bin ich in der Runde gerade das Thema Nummer Eins mit meiner Tour und alle lauschen meinen Erzählungen und sind natürlich sehr gespannt, wie ich es mit dem DNT halte. Es sind sehr informative und gute Gespräche und es freut mich, dass auch Kritik sehr willkommen ist.
Natürlich sehe ich auch das immer grösser werdende Problem mit den Gratisübernachtungen, dem Ausräumen der Provianträume ohne zu bezahlen und ganz allgemein mit Vandalismus und Diebstahl in den Hütten. Ein sehr trauriges Thema und auch eines, welches mich immer ziemlich sauer macht. Das ganze System des DNT basiert auf Vertrauen und gerade das wird immer mehr ausgenützt.
Die Konsequenzen werden in Zukunft z.T. geschlossene Hütten sein, vielleicht bezahlte Hüttenwarte wie in Schweden, mit dem zu rechnenden Preisanstieg, usw.
Die Entwicklung ist für mich absolut unverständlich und ich muss mir selber eingestehen: Nutze es so gut wie möglich, so lange es das noch gibt!
Trotz der traurigen Thematik haben wir aber auch sehr viel zu lachen. Als ich das Thema neue Wegführungen und Wege anspreche, erzählt mir Oleg der Verantwortliche, dass er gerade letzte Woche noch einen Weg in der Nähe von Grotli fertiggestellt habe.
„Ahh… du meinst den von der Veltdalshütte nach Billingen?“ frage ich.
„Genau den, bist du den auch gewandert?“ fragt Oleg zurück.
„Aber sicher und er war kaum zu erkennen, so neu war der. Gerade als ihr noch die roten Markierungen auf den Steine nicht mehr gemacht habt, wurde es noch schwieriger!“
„Soso… die roten Markierungen“ betont Oleg spitzbübisch, wendet sich zu der Weg-Verantwortlichen und sagt laut in den Saal:
„Ja, die Markierungen fehlen immer noch, da Wencke an diesem Tag die Farbe vergessen hat, oder nicht meine Dame?“
Lautes Gelächter schallt durch den Raum und ich kann mir ebenfalls ein Lachen nicht verkneifen. So können Geschichten entstehen und nun haben Anja und ich auch die Erklärung, warum wir die Markierungen nicht mehr gesehen haben.
Nun, das Bier von Wencke habe ich an diesem Abend auf sicher und es kommt noch besser. Als ich Oleg erzähle, dass ich mit dem Gedanken spiele, in Haukeliseter mein Zelt, Schlafsack und Liegematte nach Hause zu schicken, da ich sie wahrscheinlich eh nicht mehr brauche, da ich auf die Hütten gehe, bietet er mir an, mein Material ihm gleich hier mitzugeben.
Er wohnt in der Nähe von Oslo und er könne das Material mit nach Hause nehmen und ich könne dann nach Lindesnes alles bei ihm abholen. Wow, was für ein Angebot!
Schon seit Tagen spiele ich mit dem Gedanken, überflüssiges Material nach Hause zu schicken. Ich werde mit Sicherheit nur noch in den Hütten übernachten und als Notunterkunft in der Vesthei taugt meine Leichtgewichtsmaterial nicht wirklich. Mittlerweile ist Herbst und die Stürme können in der Vesthei sehr stark sein, da will niemand mehr zelten. Proviant brauche ich ja so oder so kaum mehr, denn seit Trondheim haben die Hütten alle Provianträume und die sind zu meinem Erstaunen noch sehr gut gefüllt. Ich kann also mit knapp 11 oder 12 Kilogramm Rucksackgewicht auf meiner letzten Etappe nach Lindesnes rechnen. Das ist ein sehr starkes Argument.
Doch so ganz trennen kann ich mich im Moment noch nicht wirklich. Irgendwie sitzt in meinem Kopf noch der Part bis Haukeliseter. Vielleicht ist ja immer noch super Wetter und dann habe ich trotzdem noch Lust ein oder zwei Mal zu zelten. Ich lehne das Angebot mit grossem Dank ab und sage Oleg, dass ich die Ausrüstung in Haukeliseter direkt nach Hause schicken werde. So bleibt mir am Schluss auch noch der Umweg nach Kongsberg erspart, um das Material abzuholen. Dort habe ich dann wahrscheinlich nur noch den schnellen Weg nach Hause im Kopf!
Von der Wetterfront gibt es mittlerweile nur noch gute Nachrichten, das Hoch hat sich definitiv für ein paar Tage über mir installiert und sollte die nächsten vier bis fünf Tage schönstes Wetter garantieren!
Es folgt das nächste Kapitel: Hardanger voraus