Greina-Blenio-Leventina (CH)


Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht oder eben… „das Gute liegt so nahe“! Durch den Input einer guten Freundin stosse ich auf den Alpenpässeweg Nr. 6 des Schweizer Nationalwanderwegnetz. Nicht dass ich im Herbst 2018 die ganzen 34 Etappen des Weges machen möchte aber das Schicksal will es, dass gleich zu Beginn die wunderbare Greina Hochebene des Kanton Graubünden lockt und die liegt schon lange auf meiner „to do“- Liste.

Hervorragendes Herbstwetter, drei Tage arbeitsfrei und die Saison in der Hochebene ist auch seit einer Woche vorbei…. Herz was willst Du mehr! Einen Plan habe ich absichtlich keinen gemacht, denn ich habe ausser ein paar wunderschöner Fotos keine grosse Vorstellung über diese Hochebene und weiss nicht wie lange ich dort laufen will. Die Bilder die ich bisher von dieser Gegend kenne, sind schlicht einfach der Hammer und lassen eine riesige Vorfreude aufkommen. Die drei Alpenclubhütten der Greina sind soeben für die Saison geschlossen worden, aber alle verfügen über einen frei zugänglichen Winterteil und das werde ich gut nützen können den….die Hochebene und das darum liegende Gebiet ist höchste Schutzstufe und campieren ist strikte verboten.

So fahre ich mit einem voll gepackten Rucksack zuerst nach Disentis und besteige dort den Zug nach Ilanz und das Postauto, welches mich in das kitschig, schöne Dorf Vrin im Val Lumnezia bringt. Im Hotel Pez Terri ist ein kleines Zimmer reserviert inkl. einem Nachtessen in der alten Gaststube. Die Böden knarren, die Türen quietschen und alles ist wunderbar rustikal und alt. In der heimeligen Gaststube serviert mir der junge Besitzer ein wunderbares Wildessen und der Rotwein dazu könnte nicht besser sein. Bei einem kleinen Verdauungsspaziergang durch das schöne Dorf, funkeln die Sterne in vollster Pracht und der tiefe Einschnitt des Val Lumnezia zeigt seine raue und wilde Schönheit.

Nach einem herrlichen Frühstück, werfe ich meinen Rucksack an der Rücken und laufe der Strasse nach weiter ins Tal hinein. In der Sommersaison fährt hier ein Bus bis an das Strassenende, doch die vier Kilometer sind schnell bewältigt und ich geniesse die kalte, knackige Luft und die unglaubliche Stille des frühen Morgens.

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Dorf Cons und im Hintergrund Vrin

Nachdem ich das letzte Dorf Puzzatsch erreiche und somit auch das Strassenende, führt mich der mit Nr.6 angegebene Alpenpässe-Wanderweg hinauf zum Pass Diesrut 2428 MüM. Die 800 Höhenmeter auf dem hervorragenden Weg sind einfach nur Genuss pur. Ein paar wenige Einheimische sind unterwegs Richtung Greina. Sie haben die in der Saison hektische Zeit abgewartet und geniessen nun auch, wie ich, die unglaubliche Ruhe im Gebiet.

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Der Weiler Puzzatsch im Tal und der tiefe Einschnitt des Val Lumnezia

Es schwebt eine extrem friedliche Stimmung über dem Land. Der Herbst hat jetzt Ende Oktober die Natur eng umschlungen und die ersten Wintertage warten schon vor der Tür. Vor Puzzatsch liegt der Weiler Sogn Giusep und damit auch die kleine Kapelle des hintersten Teils des Lumnezias. Ich habe dort eine kurze Rast in der Kapelle gemacht und dabei irgendwie gespürt, dass da grossartige Tage auf mich zukommen werden. Wie recht das Gefühl doch hatte und grossartig ist definitiv nur der Vornamen!

Ich habe mir schon zuhause geschworen dass ich diesen Hike nun mal sehr gemütlich angehen will. Wenn ich einzig unterwegs bin laufe ich mein Tempo sehr gerne, doch ist es leider oft einfach extrem hoch und manchmal habe ich das Gefühl unterwegs zuviel zu verpassen. Vier Stunden sind von Vrin bis zum Pass Diesrut angegeben aber…. nach etwas mehr als zwei Stunden stehe ich nun dort oben und kratze mich am Kopf…hähh??

Zuerst bin ich etwas sauer über mich, konsterniert und muss doch etwas schmunzeln. Gelaufen bin ich nun definitiv sehr gemütlich, da stimmen wohl eher die Zeitangaben nicht. (Schon bald werde ich merken, dass diese Angaben tatsächlich an allen Wegweisern eher etwas phantasievoll sind.)

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Piz Greina, Piz da Stiarls, Piz Miezdi

Vor mir leuchtet das Dreigestirn um den Piz Greina in der kalten, kristallklaren Luft. Einfach atemberaubend! Ich will gleich hinter dem Pass eine kleine Pause einlegen, da ich dort sicher schon auf die Greina Hochebene hinuntersehen kann.

Es braucht viel dass mein Mundwerk stillsteht, doch hier bleibt es stumm und meine Augen können sich nicht mehr von der phantastischen Aussicht lösen.

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Greina Hochebene

Da liegt sie nun also, die langersehnte Greina, ich kann es kaum fassen. Die Herbstfarben und die klare Luft machen die Ebene zum Greifen nah. Es braucht lange, bis ich meinen Blick in die Landkarte bringen kann und da staune ich ein weiteres Mal! Bisher war ich überzeugt, dass die Greina eine riesige Hochebene sein muss, welche vielleicht sogar in mehreren Tagen durchwandert werden kann. Ich habe mich nie genauer informiert, wollte mich überraschen lassen, was nun definitiv gelingt! Ich sehe hier vom Pass praktisch über die gesamte Ebene und die am anderen Ende gelegene Hütte Capanna Scaletta wird wohl in rund drei Stunden erreichbar sein.

Nun, enttäuscht bin ich überhaupt nicht, im Gegenteil! Das heisst nämlich, dass ich definitiv noch einen Gang rausnehmen kann und die Landschaft so richtig in mich aufsaugen kann ohne auf die Uhr zu schauen!

Unterhalb des Piz Greina sehe ich die neu erstellte Hängebrücke, welche rüber zur Terrihütte führt.

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Links unten die neue Hängebrücke und unter dem Piz da Stiarls (am Schattenrand) die Terrihütte des Schweizer Alpenclubs SAC

Auch diese Hütte ist geschlossen, aber mit dem Fernglas sind Leute zu sehen, welche wohl im Winterraum übernachtet haben.

Ich steige vom Pass ab und stolpere permanent über meine Füsse. Mein Blick schweift die ganze Zeit in diese wunderschöne Kulisse statt auf den Weg.

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Rechter Einschnitt, Pass Diesrut

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Greina Hochebene

Wer Nordeuropa liebt, liebt die Greina. Dies ist nun definitiv bewiesen und ich könnte hier auch im Dividalen oder Sarek stehen. Zu allem Glück ist sogar kein Mobilempfang hier und wegen der Nachsaison kaum Menschen zu sehen. Im Sommer sieht es hier wohl einiges hektischer aus, denn die Greina scheint immer beliebter zu werden und so sind auch die Hütten oft Wochen im voraus ausgebucht. Kein Vergleich zu jetzt!

Der Weg auf dem herbstlich gelben Gras und Moos fühlt sich an wie Watte und ich schwebe nur so dahin. Ich komme nicht umhin die ganze Zeit stehen zu bleiben, zu schauen und staunen, mich immer wieder ins Gras zu legen und tief durchzuatmen.

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Greina Hochebene

Und obwohl ich kaum vorwärts komme, stehe ich schon in der Mitte der Hochebene am Crap la Grusch. Hier zweigt der Weg ab Richtung der Hütte Capanna Motterascio des SAC und des Stausees Lago di Luzzone und dem westlichen Ende der Greina.

Kurz hinter Crap la Grusch lege ich mich ins Gras und mache eine längere Pause.

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Lunch Time!

Nach einem wirklich erholsamen, kurzen Nickerchen, packe ich meine Sachen und laufe weiter zum Passo della Greina 2355 MüM. Die Hochebene verändert nun auf einen Schlag ihr Gesicht. Vom weiten, ebenen Grasland, bilden tiefe Bachfurchen lange Einschnitte ins Gelände. Das Gestein wechselt nun zum strahlend weissen Dolomit, durchsetzt mit schwarzem Schiefer. Die Landschaft wird alpiner und rauer, verliert aber unter keinen Umständen ihren lieblichen Reiz.

Der Pass ist schnell erreicht und der Blick fällt nun westwärts zum Piz Medel und der Cristallina.

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Gesteinswechsel mit grossen Erosionsgräben

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Der weisse Dolomit glänzt in der wärmenden Oktobersonne

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Cima di Camadra und Piz Medel. Unten links die Capanna Scaletta

Der Abstieg vom Pass dauert kaum eine halbe Stunde und schon kommt die Capanna Scaletta in Sicht. Ich schaue auf die Uhr und bin etwas perplex. Es ist gerade mal 14.00 und ich bin kaum 5 Stunden unterwegs und schon am Tagesziel.

Jetzt weiss ich was der Wirt des Terri Hotels in Vrin gemeint hat, als er mir erzählte, dass er diese Tour schon mehrere Male in einem Tag und dann gleich noch runter bis Blenio gelaufen ist. Die Zeitangabe hier bei der Capanna Scaletta zeigt mir drei Stunden bis zum Dorf Campo Blenio, was aber locker in etwa zwei Stunden machbar wäre. Kurz, aber nur kurz, überlege ich, ob ich gleich runter laufen soll. Doch was wär ich wohl für ein Volldusel, bei diesem herrlichen Wetter nicht hier oben zu bleiben!

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Abendstimmung auf der Capanna Scaletta. Winterhütte links der Haupthütte.

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Frieden pur!

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Capanna Scaletta

Ich bin alleine hier und beziehe die kleine, schnuckelige Winterhütte und heize den Ofen ein. Nicht das erste Mal heute, komme ich mir hier wie im hohen Norden vor. Die Winterhütte ist perfekt eingerichtet und ist schnell warm. Doch zuerst setze ich mich auf die Sonnenterrasse die ich ganz für mich alleine habe, zücke meine zwei Dosen Bier und die Erdnüsse und geniesse die friedliche Abendstimmung mit Blick auf das Val Camadra und Blenio unter mir.

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Val Camadra

Um 17.00 ist die Sonne weg und es wird schnell dunkel. Rasch zieht ein eisiger Wind auf und ich ziehe mich in die warme Hütte zurück, koche das Nachtessen und quassle mit drei Jungs aus Chur, die vor kurzem noch angekommen sind.

Ich mache mich an die Planung des nächsten Tages. Entlang des Weges Nr.6 führt mich der Weg runter ins Tal und über Blenio nach Olivone runter, wo der nächste Wandertag zu Ende gehen würde. Doch für diese Strecke brauche ich vielleicht gerade mal knapp drei Stunden und dann?? Die einzige Möglichkeit wäre eine Übernachtung auf dem Lukmanierpass gewesen um dann Richtung Leventina zu gelangen. Doch genau diese Übernachtungsmöglichkeit ist seit 5 Tagen für dieses Jahr geschlossen und so bleibt mir nichts anderes übrig als in Olivone zu bleiben.

Da kommt mir die Capanna Motterascio in den Sinn, welche auf halbem Weg in der Greina angeschrieben war. Ich brauche ja überhaupt nicht diesem Alpenpässeweg Nr.6 zu folgen wenn es keinen Sinn macht! Schnell beschliesse ich für den nächsten Tag wieder zurück auf die Hochebene zu gehen und dann am Crap la Grusch Richtung Lago di Luzzone zu gehen. Unterhalb des Staussees liegt Campo Blenio und somit auch Olivone. Dieser „Umweg“ würde dann etwa sechs bis sieben Stunden dauern und mein Tag wäre ausgefüllt und…….. ich kann nochmal in die Greina hoch!!

Gesagt, getan und so stehe ich nach einem wunderbaren Frühstück aus dem Rucksack, schon wieder vor der Hütte und mache mich auf den Weg zurück. Der Tag strahlt wie der gestrige aus vollstem Blau und ich tauche wieder in diese wunderbare Landschaft ein. Dieses Mal mache ich aber noch einen kleinen Umweg zum Greinabogen, einem riesigen Gesteinsbogen der über alle Landesgrenzen hinaus bekannt ist.

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Morgenglühen auf der Capanna Scaletta

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Greinabogen

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Greinabogen

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Der weisse Dolomit und der schwarze Schiefer regt auch Künstler an!

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Bodenfrost am Crap la Grusch

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Crap la Grusch

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Crap la Grusch

Der Morgen ist kühl und eine steife Brise bläst mir über die Hochebene mitten ins Gesicht. Ich könnte schreien vor Glück und Freude „das ist genau meine Kragenweite“ rufe ich laut hinaus und genau das ist es. Dieses raue, wilde und unberührte lässt mein Herz höher schlage. Immer wieder lege ich mich ins hohe Herbstgras und lasse die Sonne an meiner Nase kitzeln…..Spass pur!

Am Crap la Grusch angekommen, biege ich nun Richtung Motterascio ab und verlasse die Greina Hochebene. „Ich komme zurück und das ist so sicher wie das Amen in der Kirche“ rufe ich über die Landschaft und freue mich auf den nächsten Abschnitt.

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Blick Richtung Alpe di Motterascio

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Greina….. ich komme wieder, garantiert!

Vorbei an einer grossen Schwemmebene, betrete ich nun die Alpe di Motterascio.

Zum ersten Mal nach meiner Norge på langs-Tour falle ich in diesen „Flow“ des Laufens. Schon am gestrigen Tag habe ich dieses unbeschwerte Laufgefühl gespürt. Weiter, einfach immer weiter und es soll und darf nicht mehr aufhören. Es durchfliesst mich wie ein starker Strom und Energie macht sich bis in meine hinterste Zelle breit. Es ist eine riesige Genugtuung, dass ich diesen Fluss nicht nur über den Körper spüren kann, sondern dass mein Denken und Fühlen sich genau an diese Situation anpasst und mich immer weiter trägt!

Schon nach knapp einer dreiviertel Stunde sehe ich die riesige Motterascio-Hütte.

„Wow“ denke ich, das Teil ist ja wirklich riesig und ich schaue mich nach der Winterhütte um. Aber da ist keine und mit etwas Neugier probiere ich die grosse Glasdoppeltüre aufzustossen und……..die ist ja offen. In der Annahme dass da noch jemand am arbeiten ist, die Hütte ist ja gerade mal eine Woche geschlossen, wandle ich durch die Hütte und bemerke dass die Hütte praktisch vollständig offen gehalten wird für die Wintergäste. Ich komme kaum aus dem Staunen heraus, denn das ist keine Hütte sondern ein Hotel! Es ist niemand da und so verlasse ich das Haus wieder.

(Als ich zwei Tage später nach Hause komme, sehe ich im Fernsehen die neuste Staffel der „Hüttengeschichten“ des Schweizer Fernsehens SRF. Diese Serie beleuchtet jedes Jahr drei Hütten und ihre Hüttenwarte des Schweizer Alpenclubs und erzählt ihren Alltag in den Bergen. Ich staune nicht schlecht, dass da dieses Jahr die Motterascio Hütte porträtiert wird. Die letzten Dreharbeiten in voller Hütte, waren wohl gerade ein paar Tage her, so konnte der Kontrast für mich nicht grösser sein!)

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Motterascio Hütte

Als ich von der Hütte weglaufe, sehe ich ein paar Wanderer, welche sich auf den Weg machen, einen der höchsten Berge der Greina zu besteigen, der 3149 Meter hohe Piz Terri. Schade fehlt mir gerade ein Tag dazu, dass wäre ja nun wirklich Kaiserwetter gewesen dafür, doch….. ich komme ja wieder!

Ein Lächeln huscht beim Anblick des Piz Terri über mein Gesicht, erinnere ich mich doch gerade an Leona (Heimatnomadin) welche mir mit grosser Begeisterung vor ein paar Tagen ihren ersten Dreitausender am Piz Terri präsentiert hat. Ihre grosse Freude und die stolzen Worte flimmern gerade durch meinen Kopf und ich freue mich gerade extrem für sie, mache ein Bild und schicke es ihr auf`s Handy.

Ich laufe weiter und nun geht es so richtig runter! Eine hässliche, neu gebaute Quad-Strasse führt den steilen Weg hinunter zum Lago di Luzzone. Ich ärgere mich zuerst über diese „Umweltverschandlung“, werde aber am See unten auch den Grund hierfür erfahren.

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Steilweg zur Hütte hoch

Der Ausblick auf den türkisfarbenen See mit all den goldgelben Birken, lässt meine negativen Gedanken sogleich nichtig werden.

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Lago di Luzzone

Der Weg ist gut aber erbarmungslos steil und ich bin nicht unglücklich hier nicht hoch zu müssen. Schnell erreiche ich den wunderschönen See und schlendere an dessen Südufer Richtung Staumauer.

Hier befinden sich jetzt auch die Hinweistafeln auf denen erklärt wird warum der Weg innert dreier Jahren so ausgebaut wurde. Auf der Motterascio Alp werden über 180 Kühe und gegen 1000 Schafe gesömmert und dass die in diesem steilen Gelände auch einen vernünftigen Weg brauchen, wird jetzt auch mir klar.

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Lago di Luzzone

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Mitte: Piz di Güida und ganz rechts in grau der Piz Terri

Der Lago di Luzzone ist ein imposanter Stausee mit einer 220 Meter hohen Staumauer. Doch bevor ich diesen Riegel des Tals erreiche, muss ich zuerst durch einen ein Kilometer langen Tunnel laufen und komme dann an der Dammkrone an.

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Staumauer des Lago di Luzzone

Nicht dass die Mauer schon imposant genug wäre, als da ein paar Kletterfreaks auch gleich noch den längsten, künstlichen Klettersteig der Welt mitten durch die Mauer gebaut haben. Nun ja, der Blick auf die zwei Kletterer da mitten in der leicht überhängenden Wand, an der schnurgeraden Steigführung, lässt meine Lust auf`s erklettern dieser Mauer nicht wirklich in die Höhe schnellen. Man kann das Ganze schon als richtig anspruchsvoll bezeichnen und Anfänger haben da sicher nichts zu suchen, aber ob das wirklich so interessant sein soll?? Naja, muss jeder selbst wissen!

Ich schlendere an den Dammfuss und finde dort ein schönes Plätzchen um endlich eine Pause einzulegen. Es gibt nun zwei typische Anzeichen dafür dass ich im Kanton Tessin angekommen bin. Zum einen schaut bei jedem Rastplatz nun eine heilige Maria auf`s Sandwich und die Temperaturen sind nun deutlich höher und schon im mediterranen Bereich anzusiedeln. Willkommen in der Sonnenstube der Schweiz.

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Der Betonriegel des Lago di Luzzone

Nach kurzer Zeit komme ich im Val Camadra und somit im Campo Blenio an. Rechts geht mein Blick hoch zur Capanna Scaletta und einmal mehr wird mir wieder bewusst, dass es von grossem Vorteil ist ab und zu links und rechts vom Wegrand zu schauen, um nicht die Schönheiten dieser Welt zu verpassen. Wäre ich stur dem Alpenpässeweg Nr. 6 gefolgt, hätte ich diese wahren Perlen am Luzzone und Motterascio nicht entdeckt.

Ich folge nun der alten Strasse runter nach Olivone und staune einmal mehr über die beeindruckende Ingenieurskunst unserer Vorfahren. Wie mit einem Messer ist die Strasse in den unbarmherzig, harten Fels geschnitten, wo heute dahinter ein Tunnel die Autos durch diese Barriere führt.

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Alta Strada di Blenio

Und schon komme ich am frühen Nachmittag in Olivone an. Die Temperaturen erreichen noch immer 25° Ende Oktober und ich freue mich nun definitiv auf ein kühles, blondes, Helles im einzigen offenen Restaurant, welches auch gleich mein Gästezimmer für heute beherbergt.

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Olivone

Ich checke noch schnell die Öffnungszeiten im kleinen Supermarkt in Olivone, den heute am Sonntag ist hier definitiv alles geschlossen. Vis a vis ist die Post, bei welcher ich mir noch die analoge Bestätigung (geduckter Fahrplan!) für das Postauto am Montagmorgen einholen will, obwohl mein digitaler Fahrplan die Abfahrt um 8:00 anzeigt. Doch die Überraschung ist gross, denn das letzte Postauto der Saison über den Lukmanierpass fährt am Sonntag…….also heute!

Nun gut, ist halt mal wieder improvisieren angesagt und ich erhoffe mir etwas Hilfe im Hotel betreffs der Fahrt zum Pass hoch. Laufen wäre eine Alternative, doch morgen erwarten mich schon 26 Kilometer und noch zusätzlich 12 dazu wären dann wohl etwas zu viel!

Auf der Hotelterrasse lasse ich zuerst mal zwei schöne Bierchen meine Kehle beruhigen und nach einem kurzen Schwatz mit dem Juniorchef, ist die Taxifahrt zum Lukmanier hoch auch schon abgemacht.

Das üppige Tessiner Nachtessen und der wunderbare Rotwein lassen den Tag perfekt ausklingen, bevor mich der Schlaf ins Nirvana bringt.

Am Morgen kaufe ich noch schnell ein paar Sachen im Supermercato ein, frühstücke und schon steht der Seniorchef mit seiner Klapperkiste bereit, um mich nach Acquacalda in der Nähe das Lukmanierpasses zu bringen. Ich bin im Ticino und so funktioniert halt immer alles etwas anders als Zuhause. Selbstverständlich kommt auch noch die gute alte Nonna mit ihren zwei Dackel mit, zwei Enkelkinder und eine Nachbarin, welche den Innenraum dezent mit einer Zigarillo einnebelt. Der alte Peugeot hustet sich den Pass hoch und als wir in Acquacalda ankommen, weiss ich wem all die Ferienhäuser unterwegs gehören, wo welcher Onkel seine Schafe hat und welche Tante das beste Brot bäckt. Ich drücke dem guten Mann sein Taxigeld und ein rechtes Trinkgeld in die Hand und verabschiede mich herzlich von den Leuten, bevor ich mich auf den Weg mache.

Das Valle Santa Maria am Lukmanier liegt noch im Schatten und der Boden ist mit Reiff überzogen. Darüber strahlt wieder ein Azurblauer Himmel und die Sonne macht sich langsam auf den Weg, die Landschaft in ihr goldenes Licht zuhüllen.

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Valle Santa Maria

Es braucht doch einiges um mich sprachlos zu machen….. (habe ich das schon gesagt?) doch diese Landschaft und das Licht schaffen dies problemlos. Immer wieder bleibe ich stehen und staune ab so viel Schönheit. Die Birken leuchten nun im Sonnenlicht wie das Gold des König Midas, der Himmel so blau wie der Ozean und die Luft ist so klar wie ein Gebirgsbach.

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Passo del Lucomagno

Ich bin alleine und weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Selbst auf der Passstrasse herrscht völlige Stille, wo während der Saison ein höllischer Verkehr herrscht.

Ich steige gemütlich die knapp 600 Höhenmeter hoch zum Passo del Sole (was für ein treffender Name heute!) und geniesse den ausgezeichneten und einfachen Wanderweg, hier ist nun definitiv Lustwandern angesagt!

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Passo del Sole

Kurz vor dem Pass treffe ich auf ein kleines Hinweisschild. 1700 Meter unter meinen Füssen führt der neue Gotthard Basistunnel durch, welcher Ende 2016 als längster Eisenbahntunnel der Welt in Betrieb kam.

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Pizzo Columbe

Mit dem Pizzo Columbe auf der rechten Seite des Passes, beginnt nun auch eine der interessantesten Geologien des Alpenraumes. Ein Teil dieser Geologie wurde auch dem Tunnelbau des Basistunnel fast zum Verhängnis. Das sogenannte Pioragestein ist so fein wie Mehl und natürlich kaum beherrschbar im Tunnelbau. Es brauchte riesige Anstrengungen um dieses Gebiet stabilisieren und den Bau vorantreiben zu können.

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Passo del Sole

Auf dem Pass geht mein Blick über die Hochebene Piora und am Horizont leuchten auch schon die Berge meiner Heimat. Einmahl mehr wird ersichtlich wie klein die Schweiz doch ist. Ich stehe hier im mediterranen Tessin und keine 50 Kilometer Luftlinie von mir weg kann ich die Berge der Berner Alpen beinahe greifen.

Die Aussicht ist gewaltig schön und beeindruckend. Als ich so durch die Piora Ebene laufe, fühle ich mich gleich wie in den hohen Norden versetzt. Die traumhafte Einsamkeit und die klare, frische Luft nehmen Besitz von mir.

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Piora Hochebene

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Piora Hochebene

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Pioramulde beim Lago Cadagno

Unweit des Lago Cadagno treffe ich auf einen gut ersichtlichen Teil der sogenannten Pioramulde und kann dieses Piora“gestein“ in die Hand nehmen….oder besser durch die Hand laufen lassen!

Wirklich eine hohe Kunst hier einen Tunnel durchzubohren!!

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Lago Cadagno

Bei einer Pause am Lago Cadagno entscheide ich mich nun definitiv den noch langen Weg nach Airolo zu machen. Es gäbe auch die Möglichkeit am Lago Ritom die Abkürzung mit einer Zahnradbahn nach Ambri runter zu machen, doch ich habe genug Zeit und der Tag ist einfach ein absoluter Hammer.

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Lago Ritom

Entlang des Lago Ritom treffe ich nun auf das Tal der Leventina. Mittlerweile brennt auch die Sonne wieder auf mich runter, doch der Leventinawind lässt es angenehm erscheinen und ich komme gut vorwärts.

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Lago Ritom

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Lago Ritom

Wer von der Staumauer des Ritomsees direkt ins Tal runtersteigen will, wird spätestens am Abend dies bereuen, wenn die Kniekehlen dann oberhalb des Hinterns pochen und brennen! Der Weg ist sehr steil und es empfiehlt sich parallel zum Tal den Abstieg Richtung Airolo zu machen. Der Alpenpässeweg Nr.6 führt hier auf der grandiosen Strada Alta gemächlich dem Talboden entgegen. Der Weg ist deutlich länger aber umso schöner. Durch wunderschöne Kastanienwälder zieht der Blick immer durch den Einschnitt der Leventina hinweg. Jetzt im Spätherbst ist es ein wahrer Wanderspass mit dem Rascheln der goldgelben Blätter am Boden und der, für die Leventina ungewöhnlich, klaren Luft.

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Dunstglocke über der Leventina

Einziger Wermutstropfen ist sicher das permanente rauschen und brummen der im Tal befindlichen Nationalstrasse A2, auf der immer eine hohe Verkehrsdichte herrscht.

Nach weiteren zwei Stunden liegt Airolo in Sichtweite und ich bedaure schon dass es zu Ende geht.

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Mit einem perfekten Timing erreiche ich Airolo und erwische den Zug der mich nach Andermatt bringt und dort den Anschluss nach Disentis, wo mein Auto steht.

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Am Ziel!

65 Kilometer absolutes Genusslaufen bei bestem Wetter, in einer der grandiosesten Landschaften der Schweiz zu einem Zeitpunkt, an welchem kaum mehr Leute unterwegs sind. Die Konstellation hätte nicht besser sein können und manchmal braucht es auch etwas Glück dazu!

Der Alpenpässeweg Nr.6 hat noch einige wunderschöne Etappen die ich mir zu Gemüte führen will in der nächsten Zeit. Doch eines ist sicher, dieser Teil inkl. dem Abstecher über den Lago di Luzzone, wird für mich ein zu wiederholendes Highlight bleiben. Die Etappen haben eine mittlere Länge, sind relativ einfach zu begehen und bieten landschaftlich eine einzigartige Schönheit.

Mit Sicherheit hat die immer wieder anzutreffende Ähnlichkeit mit dem hohen Norden, für mich eine noch grössere Anziehungskraft. Umso schöner eine solche Perle praktisch vor der Haustüre zu haben!

Ich komme wieder…….. 🙂

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